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Vom Umgang mit den Gefühlen

Ohne uns dessen bewusst zu sein, tun wir einiges dafür, unsere Gefühle nicht zu fühlen. Bereits in der Kindheit lernen wir eine Fülle an Denk- und Handlungsmustern, die uns zu wahren Gefühlsvermeidungsexperten machen, und zwar ohne dass wir es merken. In diesem Text möchte ich dich zu einer kleinen Reise zum Anfang unseres Lebens einladen und einen Einblick geben in das, was viele von uns über den Umgang mit Gefühlen gelernt haben – und einen Ausblick geben, wie man all dies wieder verlernen und somit die Gefühle wieder willkommen heißen kann.

 

Babys und Gefühle

Babys sind quasi Gefühle. Bei Neugeborenen können wir schön erkennen, dass Gefühle in Wellen kommen, sich aufbauen und dann wieder gehen, da Babys Gefühle direkt und unmittelbar ausdrücken. So kann es sein, dass sie das Gesicht verziehen und einem Schmerz durch Mimik und Schreien Ausdruck verleihen, kurze Zeit später jedoch, mit oder ohne äußeren Reiz, breit und selig lächeln. Neugeborene haben noch keine Möglichkeit, über sich nachzudenken oder verbal mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Viele neuronalen Netze sind erst am Entstehen. Während der Kortex, der für das Bewusstsein zuständig ist, sich erst nach der Geburt entwickelt, beginnt die Entwicklung andere Teile des Gehirns bereits vor der Geburt. Dazu gehören beispielsweise der Gehirnstamm (zuständig für Instinkt und Überlebensfunktionen) und das limbische System (Sitz der Gefühle). Somit ist es nicht verwunderlich, dass Babys sich ganz natürlich von ihren Emotionen tragen lassen und ihnen unmittelbaren Ausdruck verleihen. Wenn sie glücklich sind, glucksen sie vor Freude, wenn sie wütend sind, brüllen sie sich die Seele aus dem Leib, ganz egal ob dies gerade angemessen ist. Babys denken nicht über ihre Gefühle nach, sie sind ihre Gefühle, in dem Augenblick. Babys surfen sozusagen auf den Wellen ihrer Emotionen. Wenn die Angst, die Freude oder der Schmerz sich direkt in der Situation zeigen darf, kann dieses Gefühl ganz natürlich zu seiner Zeit wieder abebben und Platz für Neues machen. Leider haben wir Erwachsene verlernt, diese Wellen mitzusurfen.

 

Kindheit und Gefühle

 

Mit der Zeit bildet sich im kindlichen Gehirn der präfrontale Kortex aus, der unter anderem für die Regulation der Emotionen und für situationsangemessenes Handeln zuständig ist. Auch die Außenwelt tut ihr Übriges und unterstützt diese zugegebenermaßen notwendige biologische Entwicklung der Impulskontrolle nach Kräften:  “Ein Indianer kennt keinen Schmerz” oder “Reiß dich mal zusammen“ sind zwei wohlbekannte Erinnerungen daran, dass Kinder lernen müssen, ihre Gefühle nicht mehr in jeder Situation, sofort und unvermittelt auszudrücken. Dass Kinder diese Steuerung ihrer Emotionen lernen müssen, um sich erfolgreich in eine Gruppe und später auch in die Gesellschaft zu integrieren, ist unbestritten. Nur, was passiert mit den unterdrücken oder beiseite geschobenen Gefühlen? Lösen sie sich in Luft auf? Verpuffen im Nirgendwo? Leider nein. Wenn Kinder lernen, dass sie ihre Gefühle immer regulieren und kontrollieren müssen, und sie keinen Raum haben, sie in einem angemessenen Rahmen auch fühlen, zeigen und leben zu dürfen, dann sammeln sich diese ungewollten Gefühle irgendwo in einer kleinen, dunklen Ecke des Körpers (bespielsweise in den Faszien, aber auch auf zellulärer Ebene) und warten nur darauf, dass sie sich mit voller Macht zeigen dürfen. Gleichzeitig verliert das Kind zunehmend den Kontakt zu seinen Gefühlen und auch zu seinem Körper, da der Körper der Ort ist, wo Gefühle am deutlichsten wahrnehmbar sind.

 

Jugend und Gefühle

 

Die Jugend wird gerne beschrieben als Zeit der überschäumenden Gefühle. Das Gehirn wird umstrukturiert und in dieser Zeit fallen manchmal Kontrollmechanismen den Umbauarbeiten im Gehirn zum Opfer. Jugendliche können in der einen Minute fast in ihren Gefühlen versinken, manchmal löst sich das Ventil und mit einem großen Knall platzen die Gefühle nach draußen. Dann igeln sie sich wieder ein, drücken die Gefühle zur Seite, da der Schmerz zu groß, die Liebe zu tief und überhaupt die Wogen der Emotionen zu unberechenbar und anstrengend sind.

 

Erwachsene und Gefühle

 

Im Erwachsenenalter legen sich die ganz großen Gefühls-Tsunamis der Pubertät in aller Regel wieder. Das Meer der Gefühle wird natürlich trotzdem täglich aufgewirbelt, doch vor diesen Wellen und Strudeln haben die meisten Menschen so große Angst, wie auch vor der Tiefe des Meeres, also vor der Tiefe der eigenen Empfindungen und der Ahnung, dass auf dem Meeresgrund noch alte, nicht gelebte Emotionen wie ein Seeungeheuer schlummern, das besser nicht geweckt werden sollte. Sie meinen, dass sie die Kontrolle verlieren werden, wenn sie loslassen und die Gefühle tatsächlich fühlen. Sie haben Angst, in den Wellen unterzugehen, und versuchen stattdessen – in aller Regel unbewusst – das Meer der Emotionen auszublenden oder zu beherrschen.

 

Dazu gibt es eine Reihe hervorragend funktionierender Strategien. Meist bereits in der Kindheit gelernt und völlig internalisiert, merken die meisten Menschen gar nicht, dass sie Experten für Gefühlsvermeidungstaktiken sind. Dabei hat jeder seine eigenen Tricks, die zuverlässig für ihn oder sie wirken. Ich bin beispielsweise Spezialist im Rationalisieren: Ich spüre zum Beispiel, dass ich wütend bin, fange dann an, darüber nachzudenken, suche Gründe und stelle fest, dass ich, wenn ich die Situation aus der Perspektive meines Gegenübers betrachte..., und da ich die Person ja eigentlich auch sehr schätze..., also eigentlich…. schwups, habe ich der Wut die Berechtigung entzogen, da zu sein. Mit meinem rationalen Verstand, der alles gerne verstehen und begreifen möchte, habe ich zunächst die Wut aus dem Körper in den Kopf geholt. Ich fühle dann die Wut nicht mehr unmittelbar, zum Beispiel als Hitze, Enge, Druck im Körper, sondern denke über sie nach. Wie viele andere Menschen fühle ich meine Gefühle dann nicht mehr, sondern denke sie. Ein entscheidender Unterschied! Meine Empathie und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel erledigen dann den Rest: "Eigentlich habe ich doch gar kein Recht wütend zu sein, in dieser Situation konnte der andere doch gar nicht anders handeln..." Diese Überlegung ist völlig falsch. Gefühle brauchen keinen Grund, keine Begründung und kein Daseinsrecht. Es reicht, dass sie da sind und sich zeigen wollen, dies alleine ist Grund genug, sich ihnen zuzuwenden. Sie mögen – aus der Verstandesperspektive – völlig irrational, überzogen oder unangemessen erscheinen, solange sie da sind, haben sie ein Recht da zu sein.

 

Auf eine weitere Strategie können wir gerade in Smartphone-Zeiten noch leichter zugreifen, um vor den eigenen Gefühlen zu fliehen: wir lenken uns ab. Doch nicht nur die „neuen Medien“ wir Handy, Computer und Fernsehen, die bereits im Verdacht stehen, abzulenken und eventuell süchtig zu machen, sondern auch andere Tätigkeiten, denen wir uns auffallend oft zuwenden, sollten uns aufhorchen lassen. Dies kann beim einen das Lesen sein, oder immer sofort das Radio anzustellen, ständig Fortbildungen und Workshops zu besuchen. Ein Zuviel kann immer darauf hinweisen, dass man eigentlich auf der Flucht vor der Stille, vor sich selbst und vor seinen Gefühlen ist.

 

Spirituelles Suchen und Gefühle

 

Die Liste der Vermeidungsstrategien lässt sich noch lange fortführen, doch ich möchte hier auf eine Weggabelung hinweisen, die uns wieder von unseren Gefühlen entfernen kann, obwohl wir uns vielleicht schon mutig und entschlossen auf den Weg zu mehr Bewusstheit und zu uns selbst gemacht haben. Manchmal werden Gefühle unterteilt in „gute“ und „schlechte“ Gefühle bzw. in „höhere Energien“ und „niedere Energien“. Manche Menschen meinen, dass sie glücklich und zufrieden werden, wenn sie sich nur noch an den vermeintlich „guten“, „höherschwingenden“ Gefühlen, Themen und Energien orientieren. Sie benutzen positive Affirmationen und Visualisierungen und blenden alles vermeintlich „Dunkle“ in sich und in der Welt aus, also auch die „schlechten“ Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Schmerz, Wut.

 

Ich glaube, dass man, um wirklich bei sich selbst anzukommen und ganz zu werden, nicht die eigenen Schattenseiten ausblenden kann. Im Gegenteil, um wirklich zu heilen und aus einer Tiefe heraus glücklich und zufrieden zu sein, ist es wichtig, auch die schwierigen Gefühle, Erfahrungen und Eigenschaften zu integrieren. Indem man auch seiner Traurigkeit, der Angst, dem Schmerz, der Wut den Raum gibt, sich zu zeigen, können diese meist seit Jahren, Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten in uns gefangenen Emotionen aus ihrem Gefängnis geholt und ans Licht gebracht werden. So verlieren sie ihre angsteinflößende Größe, Dominanz und Macht. Wenn wir uns erlauben, alle Gefühle, auch die schwierigen, wieder zu fühlen, dann dürfen sie wie Wellen kommen, sich lösen und wieder gehen. Zurück bleibt etwas, das man mit inneren Leere oder Fülle oder Frieden bezeichnen kann. Es entsteht Raum in uns, wir werden gelassener und müssen nicht mehr so viel Energie aufwenden, die ungewollten Emotionen in Schach zu halten. Unser Körper kann sich entspannen.

 

Die Gefühle zu fühlen heißt übrigens nicht, sie ungefiltert in jeder beliebigen Situation auszuagieren. Die Gefühle zu fühlen heißt, sich selbst immer wieder den Raum zu geben und zu schaffen, in dem man alleine, für sich die Gefühle einladen kann, sich zu zeigen, um sie achtsam wahrzunehmen und im Körper zu fühlen. Schön ist es auch, die Angst oder die Wut zu fragen, was sie von einem braucht. Vielleicht möchte sie gesehen werden, umarmt oder an der Hand genommen werden – denn Gefühle sind nicht unsere Widersacher, im Gegenteil: Mach die Gefühle wieder zu deinen Weggefährten, die dich warnen, auf etwas hinweisen und dir immer wieder die Augen für eine tiefere Dimension des Seins öffnen.

 

Reise zum Selbst und Gefühle

 

Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Jeff Brown, das für mich einen weiteren wesentlichen Hinweis enthält, wieso wir achtsam und liebevoll mit unseren Gefühlen umgehen sollten. 

“Healing the feeling stops the mind from reeling. If you want to change your thinking, heal your heart. That’s the best meditation of all.“ (Jeff Brown)

Es geht nämlich letztlich nicht darum, in der Meditation den Geist so zu schulen, dass die Gefühle unsere Gedanken nicht mehr durcheinanderwirbeln. Ein gewisses Maß an Distanz und Gleichmut ist auf jeden Fall hilfreich. Aber wir möchten nicht abstumpfen, gleichgültig oder taub werden für unsere Gefühle, die uns unsere Lebendigkeit und Energie spüren lassen. Es geht also nicht darum, das Boot (unseren Geist) so gut mit Ankern am Meeresboden festzuketten, dass das Schaukeln der Wellen das Boot kaum noch bewegen kann, denn die Wellen werden so nach wie vor da sein und teilweise stürmisch an den Ankern zerren. Sondern es geht darum, sanft mit den Wellen der Emotionen mitzuschwingen, sodass irgendwann kaum noch größere Strudel oder sich brechende Wellen entstehen und wir im Boot sanft dahingleiten können, eins mit dem Meer, eins mit unseren Gefühlen.

Lesenswert:

Nidiaye, Safi: Herz öffnen statt Kopf zerbrechen. Der Weg zu Freiheit, Freude und Frieden. Allegria.

Knuf, Andreas: Ruhe, ihr Quälgeister. Wie wir den Kampf gegen unsere Gefühle beenden können. Arkana.

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