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Hätte ich die Worte, würde ich dich mitnehmen in meine Welt

 

Hätte ich die Worte, würde ich dir gerne erklären, in welcher Tiefe ich fühle. Es ist wie ein Hinabtauchen in die tiefsten Tiefen des Meeres, wo eine fremde, zauberhafte Welt auf dich wartet. Verlässt du die bekannten Gebiete und tauchst hinab, bist du plötzlich umgeben von Meerestieren und Pflanzen, die merkwürdig und faszinierend zugleich sind. Sie schimmern in unbekannten Farben, zeigen sich in seltsamen Formen und vollführen Bewegungen, die zwischen sonderbar und anmutig oszillieren. Für den Besucher zunächst eine fremde, faszinierende, vielleicht auch bedrohliche Welt, und doch ist sie so natürlich und selbstverständlich und war schon immer da. Als Besucher möchtest du verstehen, du versuchst zu ordnen und zu benennen. Doch hier greifen die bekannten Konzepte und Kategorien nicht. Hier herrschen andere Gesetze. Du kannst dich mittragen lassen, inne halten und staunen. Hier unten brauchst du keine Orientierung und Kontrolle. Alles, was du sehen sollst, zeigt sich von alleine. Manchmal kann ein einzelnes Wort, ein Text, ein Bild, Musik, eine Begegnung oder ein Blick diese tiefe Weite in mir öffnen. Etwas daran berührt mich zutiefst, es rührt mich zu Tränen oder zaubert mir ein seliges Lächeln ins Gesicht. Im Innern staune ich über die schillernden Nuancen, die sich zeigen und wieder verschwinden, wie exotische Fische, die kurz vor meiner Taucherbrille auftauchen, um sich dann wieder im tiefen Dunkel des Meeres zu verlieren. Und manchmal ist es dann schwierig für mich, im Innern dieses Berührtsein und die Tiefe zu spüren, die ich oft selbst nicht genau einordnen oder benennen kann, während ich im Alltag, im Job oder im Gespräch mit dir auf einer anderen Ebene agiere.

 

Hätte ich die Worte, würde ich dir gerne erklären, mit welcher Dimension ich verbunden bin. So wie ich ein tiefes Meer von Empfindungen in mir spüren kann, fühle ich mich verbunden mit etwas, das größer und weiter ist als wir alle. Vielleicht ist dies der Grund, wieso mich der Sternenhimmel schon immer fasziniert hat und ich schon als Kind Stunden damit zubringen konnte, ihn anzuschauen. Manchmal spüre ich die Unendlichkeit und wie klein und winzig wir in diesem Augenblick im Vergleich dazu sind – und gleichzeitig ist da ein Gefühl von Verbundenheit mit dieser Unendlichkeit, ein Teil in uns, nennen wir ihn Seele, der diese Unendlichkeit in sich trägt. So wie der Sternenhimmel eine große Zeit- und Raumdimension umfasst, umspannt er auch eine Vielzahl von Sternen, die gemeinsam ein großes Ganzes ergeben. Manchmal fühle ich mich angebunden an eine große zeitliche Dimension und an die kollektiven Entwicklungsprozesse, die die Menschheit gerade durchläuft. Dann erscheint mir mein eigener oder dein Ärger über die vermeintlich großen Dramen des Alltags manchmal so klein und unwesentlich. Und manchmal weiß ich, dass es wichtig ist, bestimmte Schritte zu gehen oder Worte zu sagen, auch wenn sie in diesem Augenblick unwichtig erscheinen. Manchmal ist es so, als würde diese große Dimension wie eine gutmütige Großmutter über meine Schulter schauen und mir raten: „Lehn dich zurück, hier ist es nicht Wert, sich aufzuregen und Energie zu verschwenden.“ oder eben „Gehe diesen Schritt, steh für dich oder etwas ein, hier ist es wichtig, deine Stimme zu erheben.“

 

Hätte ich die Worte, würde ich dir gerne erklären, wieso ich mein authentisches, feinfühliges Selbst nie wieder im Stich lassen darf. Ich bringe viel in dieses Leben mit, denn meine Seele hat einen langen Weg hinter sich. Sie hat viel erlebt und bringt beides mit: Licht und Schatten. Uraltes Wissen und traumatische Erfahrungen. Es gab Zeiten, in denen es nicht sicher war, das eigene authentische Selbst, die Sensibilität, die weibliche Intuition und Weisheit zu zeigen. Es gab Zeiten, in denen es überlebenswichtig war, seinen wahren Kern zu verstecken, die eigene Kraft zu leugnen, und irgendwann haben viele sie vergessen. Doch heute sind die Zeiten andere, heute dürfen wir uns wieder erinnern. Das Erinnern und Erblühenlassen ist ein langer Weg, der viel Zeit, Geduld und Mut erfordert. Doch eines weiß ich sicher: Ich werde mein neu und zart erblühendes Selbst nicht mehr verleugnen oder im Stich lassen. Ich werde dafür einstehen und werde nicht mehr zulassen, dass es niedergetrampelt oder am Wachsen gehindert wird. Deshalb muss ich manchmal – für meine Umwelt vielleicht überraschend – klare, deutliche Grenzen ziehen. 

 

Hätte ich die Worte, würde ich dir gerne erklären, wieso ich manchmal so erschöpft bin. Es ist wie beim Klavierspielen. Mit der rechten Hand versuche ich eine Harmonie zu finden in dem Dreiklang Job, Beziehung, Zeit für mich. Ich stehe mit beiden Beinen fest auf der Erde und versuche, meinen Alltag mit all seinen Anforderungen zu meistern, während ich die Weichen stelle für ein Leben, das mehr mir und meinen Bedürfnissen entspricht und in dem ich mein Potential besser entfalten und einbringen kann. Und während die rechte Hand die neuen Akkorde sucht, bin ich gleichzeitig dabei, mit der linken Hand meine eigene Basslinie zu entdecken, das Fundament, aus dem heraus sich die Akkorde entwickeln können. Bisher spielte meine linke Hand abwesend und mechanisch die altbekannte, einfache Standardtonfolge, die auch schon ein Lied ergab, ja, aber es war eben nicht meins. Diese Basslinie ist die innere Arbeit, die ich nebenbei mache, die man vielleicht nicht auf den ersten Blick hören bzw. sehen kann, die aber die Grundlage für alles ist, was sich im Alltag entwickelt. Es kostet viel Kraft und Energie beides gleichzeitig umzulernen, insbesondere, da die innere Arbeit meist im Verborgenen stattfindet und alle davon ausgehen, dass man ständig mit der rechten Hand in den schönsten Melodien improvisiert, obwohl ich manchmal gerne einfach ein Pausezeichen in die Partitur zeichnen würde, damit die linke Hand in Ruhe zuerst ihr Fundament finden kann.

 

Hätte ich die Worte, würde ich dir gerne erklären, was ich brauche. Es ist ein sicherer, ruhiger Hafen, zu dem ich jederzeit zurückkommen kann. Eine ruhige, geerdete, beständige Präsenz, wie du sie hast, wo ich mich geborgen und willkommen und gehalten fühle, ohne festgehalten oder auf einen bestimmten Seinszustand reduziert zu werden. Meine Wahrnehmung ist so fein, dass ich manchmal den Rückzug brauche, um mich wieder zu sortieren, und manchmal brauche ich die Nähe und die Verbundenheit. Die Tiefe meiner Gefühle ist so groß, dass ich manchmal alleine hinabtauchen muss und manchmal froh bin um die starken Mauern des Hafens, die das wogende Meer, die mich und meine Gefühle halten.

 

Hätte ich die Worte, würde ich dir gerne sagen, dass du dir keine Sorgen um mich machen musst. Ich mag manchmal sehr verletzlich und sensibel wirken, und manchmal vielleicht zu offen oder zu vertrauensselig. Es ist Teil meines inneres Entwicklungswegs, alles abzulegen, was nicht zu mir gehört: die Muster und Schutzpanzer, die Rollen und Masken. Wenn ich wirklich ich selbst sein möchte, muss ich es riskieren, weich und verletzlich zu sein. Dieses Ablegen von Hüllen und Schichten geschah nicht von heute auf morgen. Ich habe Stärke gewonnen und Kraft, Wissen und Weisheit, Vertrauen, Lebendigkeit und Mut. Eine andere Art des Schutzes begleitet mich nun auf meinem Weg, eine, die man vielleicht auf den ersten Blick nicht sieht.

 

Hätte ich die Worte, würde ich dir gerne zeigen, was für eine Größe, Kraft und Schönheit in dir schlummert. Ich würde dir gerne zeigen, was ich in dir sehe, und auch dir die Augen dafür öffnen. Ich würde dir gerne sagen, dass du deinem Innern zuhören darfst. Es kennt den Weg. Ich würde dich gerne an der Hand nehmen und dich in deine eigene Tiefe führen. Doch dies ist die Aufgabe deines männlichen Herzens, wann auch immer die Zeit dafür gekommen ist. Und wenn du deine innere Welt entdeckt hast, hättest du die Worte, würdest du mich dann mitnehmen in deine Welt?

 

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