· 

Eine winterliche Einladung

Ich bin ein Sommermensch. Graue, kalte, schmuddelige Wintertage sind für mich lange ein notwendiges Übel gewesen, das zu durchleiden die ersten warmen Frühlingstage umso schöner machen. So hatten sie in gewisser Weise eine Berechtigung, aber eben eher wie ein notwendiger Zahnarztbesuch, wenn man weiterhin gesunde Zähne haben wollte, oder wie das Üben von endlosen Tonleitern, wenn man irgendwann virtuos ein Instrument spielen wollte: Man übersteht etwas in der Hoffnung, dass es möglichst schnell vorbei ist, damit man endlich wieder im Augenblick leben und das eigentliche Leben genießen kann. Ein Durchgangsort sozusagen, eine Schwellenzeit, ohne eigenen Wert.


An genau so einem grauen, kalten, schmuddeligen Wintertag war ich vor einigen Jahren, wie so oft, an dem Fluss Dreisam unterwegs, meine wöchentliche Spazierroute - jahrein, jahraus. Ich hing meinen tristen Gedanken nach, die Stimmung vom nebligen Wintergrau getrübt, die Kälte kroch mir ungemütlich unter die Jacke, während ich beobachtete, wie meine Schuhe von den matschigen, braunen Pfützen immer mehr durchweicht wurden. Nicht mal mit schönem, glitzernd weißem Schnee kann der Winter aufwarten!


Neben mir rauschte der Fluss auf gewohnte Art und Weise. Unzählige Male war ich in den letzten Jahren an seinem Ufer entlanggelaufen. Was sich jedoch immer veränderte, waren die Bäume. Jetzt standen sie kahl und trist, die dürren Äste ragten nackt in den grauen Himmel.


Doch als mein Blick in die Ferne glitt, erkannte ich, dass erst jetzt, ohne das grüne Blätterkleid, die Silhouette jedes einzelnen Baumes klar zum Vorschein kam - und wie wunderschön sah das aus. Jeder Baum war so anders, hatte seine eigene Form und Eigenheit. Jetzt waren krumm gewachsene Äste oder Lücken in der Baumkrone nicht im saftigen Grün versteckt, sondern zeigten sich in einer ungeschönten Klarheit und Ehrlichkeit, die mich auf seltsame Art berührte.

 

Es war, als hätten die Bäume vor mir etwas begriffen. Dass es im Winter darum geht, sich auf die Essenz zu besinnen, die Kraft nach innen zu ziehen, zu den eigenen Wurzeln - ganz egal, wie das nach Außen hin scheinen mag, was andere denken könnten. Nun geht es ganz darum, sich auf das zu konzentrieren, was Wesentlich ist: die Lebenskraft. Aller Schein, alles Äußere, das nicht essentiell wichtig ist, darf abgeworfen werden. Es geht um das Sein, um das Zurückbesinnen auf sich selbst, die Lebenskraft in den eigenen Wurzeln finden und nähren, um dann im Frühjahr mit frischer Kraft wieder aufs Neue zu erblühen.

 

Dass der Winter nicht notwendigerweise ein ungeliebter Durchgangszustand sein muss, sondern eine freundliche Einladung sein kann, sich bewusst mehr zurückzuziehen und nach innen zu lauschen, sich selbst besser kennenzulernen, um dann klarer und bewusster neue Wege einzuschlagen, wenn das Leben im Außen wieder Fahrt aufnimmt, all dies wurde mir in diesem kleinen magischen Moment beim Betrachten dieser wunderschönen Baumsilhouetten am Flussufer der Dreisam bewusst.

 

Der Wintertag war auf dem Nachhauseweg immer noch grau, kalt und schmuddelig, meine Schuhe matschig und durchweicht - aber in mir hatte sich eine Ruhe und Klarheit ausgebreitet. Ja, das möchte ich auch. Wie die Bäume mich auf meine Essenz besinnen. In diesem Augenblick nahm ich die winterliche Einladung zum ersten Mal bewusst an.

      

Ich bin zwar immer noch ein Sommermensch, aber der Winter hat nun auch etwas Magisches und Schönes. Eine Zeit des Rückzugs und der Entschleunigung, auf die ich mittlerweile nicht mehr verzichten möchte. Für die ich dankbar bin. Auf die ich mich manchmal sogar freue. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0