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Zartbesaitet - das Chaos der ersten Töne

 

Ein Sensibelchen? Früher habe ich alles dafür getan, dass niemand mich so sah. Ein Sensibelchen, das ist doch das Gleiche wie ein Mimöschen – und ist das nicht die Pflanze, die sich bei der kleinsten Erschütterung oder der Veränderung der Licht- und  Wärmeintensität einklappt? Klein macht, einrollt und die Stacheln aufstellt wie ein Igel? Auf Englisch heißt sie „Touch me not“, auf Deutsch wird sie auch „Schamhafte Sinnpflanze“ genannt. Wer bitteschön will das schon sein?

 

Also habe ich tapfer die Zähne zusammengebissen und bin in jungen Jahren mutig in Schüleraustausche, später zu Studentenpartys und Hüttenwochenden, ich habe Smalltalk gemacht, in meinem Job als Lehrerin am Elternsprechtag besorgte, wütende, freundliche oder ängstliche Eltern im Zehnminutentakt besänftigt, bestärkt oder manchmal auch schlicht ausgehalten. Ich war zäh, habe mich am Riemen gerissen, wollte keine Schwäche zeigen und habe so über die Jahre eine große Willenskraft erworben – und mich trotzdem oft verwundert gefragt, wieso ich nach diesen Situationen so ausgelaugt war und manchmal sogar krank wurde. Andere schaffen das doch auch, wieso sind meine Batterien im Anschluss leer, auch wenn mir – vielleicht abgesehen vom Elternsprechtag – diese Aktivitäten durchaus viel Freude machen?

 

Beispiele gibt es wie Sand am Meer: Eine Freundin futtert nach einer heftigen Magen-Darm-Geschichte, die uns im Frankreichurlaub überraschte, schon bald wieder munter Würstchen und Salat, während ich wochenlang leide und sich die Erfahrung so stark und traumatisch in Körper und Psyche einprägt, dass ich über Jahre beim kleinsten Bauchgrimmen in Panik gerate. Ein Patient verlässt nach einem kritischen Befund die Arztpraxis und sagt frohgemut:  „Dann ist ja alles gut“, während ich auf das kleinste Zucken des Mundwinkels achte, jede Veränderung der Tonlage wahrnehme und beim kleinsten sorgenvollen Blick des Arztes sofort verunsichert bin. Manche meiner Freunde kommen in einen Raum und sind einfach da, während ich sofort die Stimmung in diesem Raum bis in meine Zellen hinein fühle, spüre, wer sich in einer Gesprächsrunde ausgeschlossen fühlt, feine Antennen habe für die Emotionen anderer, irritiert bin durch laute Hintergrundgeräusche – und all diese Eindrücke mich manchmal überwältigen.

 

Die Wahrheit ist: ich bin kein Sensibelchen. Ich bin ein Hochsensibelchen.

 

Mit dieser Disposition bin ich nicht alleine. Trotzdem ist Hochsensibilität ein Thema, das erst seit einigen Jahren bekannt ist. Seltsamerweise fällt es Betroffenen zunächst nicht leicht, sich die eigene besondere Feinfühligkeit einzugestehen. Schließlich hat man Jahrzehnte lang alles dafür getan, „normal“ zu sein. Besonders feinfühlig oder empfindsam zu sein, wird meist als Schwäche gewertet. „Ich bin nicht so belastbar, ich bin zu dünnhäutig.“ Das sind Sätze, die man in sich hört, und oft auch von außen zu hören bekommt, aber die man auf keinen Fall auf sich sitzen lassen möchte. Man möchte sich und den anderen beweisen, dass man genauso mutig in die Welt hinausgeht, genug Energie für alle Anforderungen des Lebens hat und bloß keine Sonderbehandlung braucht. So setzt man sich jahrelang einer Reizüberflutung aus, gönnt sich keine oder zu wenig Regenerationszeiten, übergeht den Ruf des Körpers und des überforderten Nervensystems nach Rückzug. Man möchte bitteschön auf keinen Fall das Label „Vorsicht, ich bin ein Sensibelchen“ oder „HSP“ („highly sensitive person“) auf der Stirn kleben haben. Und außerdem: es gibt so viel, das einen begeistert, man hat so viele Interessen, Ideen, Träume, eine übersprudelnde Kreativität – das alles möchte doch gelebt werden!

 

Wenn man sich dann irgendwann doch eingesteht, dass man vielleicht in bestimmten Bereichen anders ist, dann ist dies meist eine Erleichterung. Plötzlich wird einem bewusst, dass es gar nicht um Schwäche oder fehlende Belastbarkeit geht. Man funktioniert einfach nur anders, was die Hirnforschung nun auch belegt: da die neuronalen Systeme anders geschaltet sind, nimmt man eine Fülle an Reizen wahr, die über die Sinnesorgane und das Nervensystem erst einmal verarbeitet werden müssen. Eine von außen betrachtet ganz alltägliche Situationen wie beispielsweise ein Gespräch in einem vollen, stickigen, lauten Regionalzug kann für einen Hochsensiblen enormen Stress bedeuten, da Gerüche intensiver, Hintergrundgeräusche als störender und auch die Enge und Masse an Menschen und fremden Energien als extrem belastend empfunden werden kann. Gut, dass man sich das nun einfach einmal selbst eingestehen darf. Auch wenn an der Situation vielleicht nichts zu ändern ist, so ist es schon hilfreich, wenn die eigenen inneren Reaktionen überhaupt wahr- und ernstgenommen werden – und vielleicht gönnt man sich danach bewusst ein paar Atemzüge in Ruhe an der frischen Luft oder es findet sich vielleicht tatsächlich eine Möglichkeit, das nächste Mal entspannter von A nach B zu kommen. Das Zauberwort heißt Selbstfürsorge – doch sich selbst diese Extraportion Schutz zu gönnen und diese auch vom Umfeld einzufordern, ist alles andere als leicht.

 

Wenn man feststellt, dass man etwas zarter besaitet ist als viele andere, dass man eben nicht, wie man immer dachte, eine Westerngitarre mit robusten Stahlsaiten spielt, sondern eine filigrane, zerbrechliche Harfe, dann ist das auf den ersten Blick vielleicht erschreckend, da man die doch eher sperrigere Harfe nicht mehr einfach so auf den Rücken schnallen und per Anhalter damit auf Weltreise gehen kann, wie man dies mit der Westerngitarre bisher gewohnt war. Aber: wenn man beginnt, der Harfe Töne zu entlocken, sind die Extramühen und das besondere Stückchen Sorgfalt, das dieses Instrument benötigt, schnell vergessen.  Der innere Reichtum an Eindrücken, die Tiefe der Empfindungen, der empathische Austausch mit anderen, den Hochsensible in sich zum Klingen bringen können, all dies ist nicht nur Bürde, sondern auch ein Geschenk – wenn man lernt, damit umzugehen!

 

Das bringt uns zum Chaos der ersten Töne. Bisher schrammelte man lagerfeuertrunken oder zupfte virtuos auf seiner Westerngitarre. Hier kannte man sich aus, man war kompetent. Jetzt steht die Harfe vor einem und, noch vorsichtig und ehrfurchtsvoll, bringt man die erste Saite zum Klingen. Oh, wie schön, wie zart! Man ist begeistert – aber viel mehr als einzelne Saiten anzupfen kann man noch nicht. Man braucht Übung, bevor man dem neuen Instrument eine Harmonie, ein Lied entlocken kann.

 

Zurück zur Hochsensibilität: Einerseits kann es traurig machen zu merken, dass man über Jahre einen wesentlichen Anteil seiner Persönlichkeit verleugnet und kleingehalten hat, da man ihn für minderwertig oder schwach hielt. Andererseits ist es auch unheimlich schön und befreiend, diesen verlorenen Persönlichkeitsanteil wiedergefunden zu haben, ihm nun endlich Raum zu geben und ihn leben zu wollen. Doch diese Integration erfolgt nicht immer ohne Turbulenzen. Plötzlich steht da ein neues Familienmitglied im Raum, das seinen Platz finden muss. Welcher der anderen Anteile rückt zur Seite, wie viel Platz soll man dem Neuankömmling einräumen, und überhaupt, weiß der überhaupt, wie er sich im Familienalltag zu verhalten hat, da er doch bisher sein Dasein alleine im dunklen Keller gefristet hat? Wie erreicht man eine Harmonie zwischen den Persönlichkeitsanteilen?

 

Diese Transformationsphase ist oft mit Dissonanzen, mit Unsicherheiten und inneren Krisen verbunden. So ist es beispielsweise möglich, dass die nun endlich gesehene und gelebte Empfindsamkeit zur Folge hat, dass man übermäßig berührbar und durchlässig wird, dass die äußeren Reize noch unkontrollierter hereinströmen, dass man überflutet wird von Eindrücken. Es ist so, als würde man eine Schleuse öffnen, die bisher verschlossen war, und nun fluten die Energien und Emotionen machtvoll und unkontrolliert nach drinnen. Ein erster Impuls könnte sein: Schleuse wieder zu, Empfindsamkeit wieder in den Keller. Eine echte Lösung ist das nicht. Der andere Weg ist länger und anstrengender. Er braucht Zeit, Geduld, Mitgefühl mit sich selbst und genug (Schutz-)Raum, damit das zarte Pflänzchen Sensibilität langsam und in seinem eigenen Tempo erblühen und stark genug werden kann, um seinen eigenen Schutzmechanismus und seine eigene Melodie zu entwickeln. Und irgendwann werden die Töne dann wieder klingen, anders diesmal, hell und klar und für den Hochsensiblen vielleicht harmonischer, stimmiger.

 

Bis dahin: Manchmal muss man sich für einige Zeit einigeln, um – durch die Stacheln gut geschützt –  ganz bei sich ankommen zu können.

 

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