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Yoga off the mat - Yoga im Alltag leben

Yoga, das sind nicht nur die 90 Minuten auf der Matte, in denen du möglichst achtsam deinen Körper in komplizierte Positionen bringst, die Gedanken kurz vom Alltag auf deinen Atem richtest, exotisch anmutende Mantren singst oder deine neue, schicke Yogahose ausführst. Yoga, das ist eigentlich eine Lebenshaltung. Yoga soll im Alltag praktisch umgesetzt und gelebt werden, also „on and off the mat“. In den alten philosophischen Schriften wird dies als „Karma-Yoga“ bezeichnet – ein Konzept, das uns auch heute wertvolle Impulse für ein achtsames, selbstverantwortliches Leben gibt. Was Karma-Yoga für uns und unser heutiges Leben bedeuten kann, erfährst du hier.

 

Der Begriff Karma-Yoga begegnete mir zum ersten Mal während eines Yoga-Urlaubs in der Türkei.  In dem kleinen, familiär geführten Yoga-Zentrum wurde bei der Vorstellungsrunde am ersten Tag auf die hier übliche Tradition des Karma-Yogas hingewiesen: Es möge doch jeder herumliegendes Geschirr nach dem Essen zur Geschirrrückgabestelle bringen. Das gäbe gutes Karma und entlaste nebenbei noch die Küchenkräfte. Und in der Tat, es funktionierte prima. Manchmal räumte sogar jemand auch das Geschirr der noch am Tisch sitzenden Teilnehmer weg  – mit einem augenzwinkernden „Fürs gute Karma“. Auch wenn es beim Karma-Yoga, dem Yoga des Handelns, strenggenommen um völlig selbstloses Handeln (oder auch Dienen) geht, was also auch bedeutet, wegen der guten Tat  nicht auf „gutes Karma“ zu hoffen, so ist mir diese kleine Begebenheit mit dem Geschirr doch im Gedächtnis geblieben. Hier werden einige Aspekte deutlich, die für mich Karma-Yoga ausmachen:

 

1. Karma-Yoga ist das Yoga des alltäglichen Lebens. Du brauchst dafür keine Yogamatte, keine festen Zeiten oder bestimmte Kenntnisse. Jeder kann sich darin üben, bewusst und selbstlos zu handeln, der Anfänger wie der geübte Yogi. Es geht immer um das Hier und Jetzt. Du brauchst keine Vorbereitung und es gibt keine Entschuldigungen. Viele von uns sind in Lebenssituationen, in denen wir durch Job und Familie so eingebunden sind, dass manchmal gar nicht mehr viel Platz für die Yogapraxis bleibt. Trotzdem kannst du, auch wenn du nicht gerade auf der Yogamatte sitzt oder stehst, deinen Mitmenschen bewusst und wohlwollend begegnen und deine täglichen Tätigkeiten achtsam ausführen. So wird Yoga Teil des Lebens, das Leben wird zur yogischen Praxis. Yoga wird zu einer grundsätzlichen Haltung im Leben.

 

2. Karma-Yoga ist das Üben der kleinen Schritte. Wenn du dir vornimmst, eine ganz große tolle Handlung durchzuführen, hat dies wenig mit Karma-Yoga zu tun. Vielmehr geht es darum, ganz pragmatisch im Hier und Jetzt zu schauen, was das Naheliegende ist. Was in diesem Augenblick nötig ist, wo dein Handeln gebraucht wird. Das können Kleinigkeiten wie das Geschirrzurückbringen sein, welche jedoch insgesamt eine Auswirkung auf eine Gemeinschaft haben können, die weitere Kreise zieht. Andere bemerken die Hilfsbereitschaft, werden auch aufmerksamer und beginnen, kleine Dinge für die Gruppe zu tun. Ganz natürlich kann so Großes entstehen. Kleine, stetige Schritte führen auch zum Ziel. Mir hilft diese Erkenntnis manchmal, wenn ich unzufrieden bin, weil ich die großen Ziele, die ich gerne erreichen wollte, nicht erreicht habe. Und ich fange wieder an, die vielen kleinen Schritte, die ich jeden Tag in Richtung meines Zieles gehe, wahrzunehmen und wertzuschätzen.

 

3. Karma-Yoga ist sowohl eine Herausforderung  wie auch eine Chance für Kopfmenschen. Vielleicht kennst du das auch? Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich Texte und Theorien in mich aufsauge, ich möchte wissen, ich möchte verstehen, ich möchte erkennen. Jnana-Yoga (der Weg der Erkenntnis) scheint mir manchmal auf den ersten Blick am nächsten zu liegen. Doch Wissen alleine reicht nicht, wenn es nicht in die Praxis umgesetzt wird. Karma-Yoga betont, dass es nicht nur um das Wissen und Fühlen geht, sondern auch um das Tun. Yoga besteht eben nicht nur aus Theorien, sondern möchte gelebt werden. Beim Tun ist jedoch auch die liebevolle Hingabe wichtig, die bei Bhakti-Yoga im Vordergrund steht, damit das Handeln nicht leer bleibt. Für mich bedeutet Karma-Yoga in gewisser Weise, wieder zurück auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden. Es geht nicht darum, möglichst weise über allen Dingen zu stehen, sondern vielmehr darum, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen und hier in diesem Leben bewusst zu leben und zu handeln. Daran erinnert Karma-Yoga.

 

4. Karma-Yoga bedeutet zu handeln, ohne die Frucht des Handelns haben zu wollen. Als Kind habe ich ganz naiv nur an das Gute im Menschen geglaubt. Ich dachte, dass ich immer geben und helfen kann. Als Jugendliche und im frühen Erwachsenenalter musste ich dann jedoch feststellen, dass man als sensibler, ans Gute im Menschen glaubender junger Mensch in der heutigen Gesellschaft ganz schön hin- und hergeschubst wird. Das Gefühl, das in mir entstand war: Du musst deinen Platz behaupten. Du musst schauen, dass du nicht zu kurz kommst. Wenn du etwas gibst, dann solltest du darauf schauen, dass du etwas zurückbekommst, dass du nicht ausgenutzt wirst. Dieser Prozess war mir bewusst, und ich glaubte, dass die heutige Gesellschaft einfach so ist: Wenn du nicht auf deinen Anteil pochst, wenn du einfach nur selbstlos handelst, dann wird auf dir herumgetrampelt.

 

So habe ich mir auch angewöhnt, nicht unbedingt selbstsüchtig zu handeln, aber doch in den meisten Situationen darauf zu achten, ob ich etwas zurückbekomme. Schön fand ich das nicht, aber es schien notwendig zu sein. Deshalb finde ich genau diesen Aspekt „zu handeln, ohne die Frucht des Handelns haben zu wollen“ eine schöne Erinnerung an etwas, das für mich als Kind und Jugendliche so selbstverständlich war. Vielleicht geht es dir auch so? Und vielleicht wird es mit dieser Erkenntnis nach und nach notwendig, sich ein neues berufliches oder privates Umfeld zu suchen oder zu schaffen, in dem man nach dieser Maxime leben kann, ohne an den Rand gedrängt oder ausgenutzt zu werden. Aber auch hier empfiehlt sich: Üben und Handeln in kleinen Schritten.

 

5. Karma-Yoga hat das höhere Selbst, nicht das Ego oder den Erfolg im Außen als Gradmesser. Auch dieser Aspekt schließt sich an das eben erwähnte Umlernen als junge Erwachsene an: in der Kindheit fiel es dir bestimmt auch noch leichter, die Dinge einfach um ihrer selbst willen so gut wie möglich zu tun. Dann lernst du bei den ersten Jobs, in Bewerbungsgesprächen, Prüfungen usw., dass du die Dinge nicht um ihrer selbst willen tust, sondern dass alles einem höheren, äußeren Ziel folgt. Es wird wichtig einen interessanten Lebenslauf zu haben, gute Noten oder viele Qualifikationen zu erwerben, um gelobt zu werden und Ansehen zu erlangen. Auch die sozialen Medien suggerieren dir, dass es wichtig ist, nach außen hin gut dazustehen, ein tolles Bild von sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. So wird über Jahre das Ego und der äußere Erfolg gefüttert, du lernst zu handeln, um im Außen Anerkennung, Erfolg oder Liebe zu bekommen  – statt nach innen zu schauen und dort die Fülle und Liebe und Ganzheit zu finden, die du in dieser Form nie im Außen finden wirst.

6. Karma-Yoga bedeutet aus dem Herzen heraus zu handeln. Manchmal bist du vielleicht in Situationen, in denen du tatsächlich keine Wahl hat, in denen du dich nicht für den einen oder den anderen Weg entscheiden kannst. Trotzdem hast du auch dann eine Wahl. Dann geht es zwar nicht darum, WAS du tun möchtest, sondern darum zu wählen, WIE du es tust. Du kannst etwas tun, weil es getan werden muss, und es dabei lästig finden und dich selbst bemitleiden – oder, da sowieso kein Weg darum herum führt, kannst du dies, so gut es eben geht, mit Herzenswärme tun.

 

In vielen Situationen des Lebens hast du jedoch tatsächlich eine Wahl und dann geht es darum zu lernen, nicht ausschließlich aus dem Kopf heraus zu handeln, sondern zunehmend dem Herzen die Führung zu übergeben – was ja nicht heißt, dass der Kopf ganz ausgeschaltet wird. Aus dem Herzen heraus handeln bedeutet allerdings nicht, dass ich immer offen und mit Liebe handeln muss. Aus dem Herzen heraus zu handeln kann  – nämlich aus Liebe zu sich selbst! –  auch bedeuten, notwendige Grenzen zu ziehen. Wenn du auch dies klar und aus dem Herzen heraus tut, ist es weniger verletzend für alle Beteiligten.

 

7. Karma-Yoga bedeutet, sich seiner Verantwortung bewusst zu sein. In manchen Situationen fühlst du dich hilflos ausgeliefert, als Spielball, handlungsunfähig, ohnmächtig. Doch eigentlich hast du immer eine Möglichkeit zu handeln. Sobald du dir dessen bewusst wirst und auch das Nicht-Handeln als eigene Entscheidung siehst, kommst du wieder etwas mehr in deine Kraft und wirst handlungsfähiger.

 

Was das konkret bedeuten kann, möchte ich an einem Beispiel zeigen: Ich saß vor einiger Zeit am Flughafen in Antalya bereits am Gate kurz vor dem Rückflug nach einem Yoga-Urlaub. Plötzlich fiel mir ein Mann etwas entfernt von mir auf, der eine ganz große Unruhe, Rastlosigkeit und irgendwie eine dunkle Energie ausstrahlte. Ich hatte sofort eine ganz starke körperliche Reaktion und vor allem im Solarplexus war ganz viel Druck, mir wurde schwindlig und übel. Mein ganzer Körper schrie „Warnung!“. Mein Gefühl war: Steig nicht in dieses Flugzeug. Ich beobachtete die Situation etwas genauer, auch anderen Passagieren schien dieser Mann aufgefallen zu sein. In dieser Situation fühle ich mich völlig hilflos, ausgeliefert, und auch auf der körperlichen Ebene fühlte es sich an, als würde ich gleich ohnmächtig werden. Ja, ich hatte Handlungsoptionen (den Sicherheitskräften Bescheid geben, mich weigern einzusteigen), aber wirklich umsetzbar schien mir so kurz vor dem Boarding keine. Ich fühlte mich wie gelähmt. Doch dann kam irgendwoher ein Impuls: „Geh auf den Mann zu und sprich mit ihm!“ Bevor der Kopf intervenieren konnte, stand ich schon auf, nahm Blickkontakt mit dem Mann auf, ging zu ihm und setzte mich neben ihn. Das Ende der Geschichte war, dass der Mann ganz offen war, mir quasi sein Herz öffnete und erzählte, dass er wegen der Beerdigung eines nahen Verwandten in die Türkei geflogen war und dass er voller Trauer und Unverständnis darüber sei, wie ein so junger Mensch völlig unvorhersehbar mitten aus dem Leben gerissen werden konnte. Dann unterhielten wir uns ein bisschen über Yoga und ich merkte, wie er mehr zur Ruhe kam. Letztlich hatte ich den Eindruck, dass dieses Zugehen auf ihn nicht nur mir gutgetan hatte (ich konnte beruhigt in das Flugzeug einsteigen, wie auch ein paar andere, die die Szene beobachtet hatten und danach erleichtert wirkten), sondern auch ihm.

 

Wieso ich all dies erzähle: dieses Ereignis hat einen starken Eindruck hinterlassen. In einer Situation, in der ich mich ohnmächtig und wie gelähmt fühlte und alle Handlungsoptionen auf Konfrontation hinausliefen bzw. fast nicht umsetzbar schienen, ist es mir gelungen, mit offenem Herzen einfach auf diesen Menschen zuzugehen. Zugegebenermaßen habe ich dies nicht selbstlos getan, es ging mir in erster Linie darum herauszufinden, ob mein Gefühl mich trügt und ob ich in das Flugzeug einsteigen kann. Trotzdem habe ich versucht zu handeln und mein Herz für diesen Menschen, den ich zunächst eigentlich im Verdacht hatte, das Flugzeug in die Luft sprengen zu wollen, zu öffnen. Ich habe in dieser schwierigen Situation Verantwortung für mich und meine Wahrnehmung übernommen.

 

Zum Abschluss möchte ich dir zwei Zitate mit auf deinen Karma-Yoga-Weg geben:

 

„Sei dir der Verantwortung bewusst, der Schöpfer deiner eigenen Realität zu sein.“

 

 „Vollbringe in einem Zustand der Losgelöstheit was getan werden muss, was auch immer es ist, und verlange niemals nach den Früchten Deiner Taten.“

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Insha (Samstag, 28 Oktober 2017 19:41)

    Wunderschön geschrieben und du bist auch noch in meiner Nähe �.
    Danke schön. Hab’s gleich geteilt liebe Bettina.
    Herzgruss Insha