· 

Der Yogaweg - Sadhana

Die Reise zu den Wurzeln des Yoga beginnt mit den Veden. Dies ist uraltes Wissen, das in den Jahren 1500  bis 900 v. Chr. mündlich tradiert und von Lehrer zu Schüler weitergegeben wurde. Im Jahrtausend v. Chr. folgten die Upanishaden (die eigentlich den letzten Teil der Veden darstellen), die Bhagavadgita und etwa um das Jahr Null die Yogasutren des Pantajali, die die Grundlage des modernen Yoga bilden. In diesen Schriften werden viele Sanskrit-Worte benutzt, die man heute immer wieder hört oder auf Jutebeuteln lesen kann. Doch worum geht es im Kern? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich dir heute einen ersten Eindruck vermitteln, was sich hinter einigen der fremd anmutenden Begriffe verbirgt und inwiefern die Beschäftigung damit uns auch heute als Wegweiser durch das Leben dienen kann.

 

In aller Regel ist uns Menschen gar nicht bewusst, dass wir in Avidya, also in einem Zustand der „Unwissenheit“  leben. Manchmal verläuft das Leben leicht und gut, manchmal gibt es schwierige Phasen des Leides. Dieses Auf und Ab nimmt man normalerweise als gegeben hin, in gewisser Weise ist man eben ein Spielball des Schicksals. Man versucht in den gegebenen Umständen das Bestmögliche zu erreichen. Man versucht den Alltagsanforderungen gerecht zu werden. Schließlich kennt man sich, seine Stärken und Schwächen. Man weiß, wer man ist und was man tut... bis …. Ja, bis eines Tages das Leid zu groß wird, bis eine Krankheit, eine Trennung, der Tod eines lieben Menschen, der Arbeitsplatzverlust oder ein anderes einschneidendes Erlebnis einen dazu zwingt innezuhalten. Plötzlich sind alle Sicherheiten weg. Man fragt sich: Was tue ich hier eigentlich? Wo stehe ich in meinem Leben, und wo gehe ich gerade hin? Möchte ich das? Was ist eigentlich der Sinn des Lebens und was ist meine Lebensaufgabe? Wer bin ich im tiefsten Kern eigentlich wirklich?

 

Der Auslöser

 

Ich persönlich glaube, dass man ein einschneidendes Erlebnis oder eben dieses Gefühl des zu viel Leids braucht, um zu erkennen, dass man sich in Avidya, also im Nicht-Sehen, im In-der-Dunkelheit-Sein ganz bequem eingerichtet hatte, aber dass dieses Augenverschließen nun nicht mehr ausreicht. Vor diesem Auslöser nimmt man die Enge dieses Zustandes gar nicht wahr. Unsere Gesellschaft hat im Großen und Ganzen auch kein Interesse daran, dass man beginnt, sich solche Fragen zu stellen, und dass man anfängt, an den proklamierten Werten zu zweifeln. „Mein Haus, mein Auto, meine Familie“ – „Mein Schloss, mein Boot, meine Firma“.  Alles ist aufs Außen ausgerichtet. Wir wollen in einem positiven Licht dastehen, mithalten können. Aber wie sieht es in uns drinnen aus? Kann uns das Haus, das Auto und die Firma glücklich machen?

 

Avidya ist eine der fünf Kleshas, also der Leidensursachen, die darauf basiert, dass wir das Gefühl haben, wir seinen bloß ein Körper (den wir außenwirksam modellieren sollten), Gedanken (die wir über affirmative Glaubensätze formen können) und Gefühle (die wir nicht mehr wirklich fühlen, sondern eher denken). Wir fühlen uns getrennt, wir sind schließlich Individuen und sollten uns in diesem Leben möglichst individuell selbstverwirklichen und selbstoptimieren – das zumindest schreit uns die Gesellschaft entgegen. Stattdessen sehnen wir uns heute nach Nähe und Geborgenheit, nach Stabilität und Verbundenheit. Und hoffen, dies im Außen zu finden – im Haus, im Auto, auf dem Bankkonto. Und meist funktioniert dies auch für eine gewisse Zeit. Bis wir aufwachen.

 

Der Beginn

 

Zu Beginn des Weges von Avidya, dem Nicht-Sehen, zu Viveka, dem Sehen oder der Unterscheidungskraft, steht für mich, wie schon gesagt, ein Auslöser und dann ein starker Wunsch bzw. eine klare Entscheidung. Die Entscheidung loszugehen. Auch, wenn zu diesem Zeitpunkt meist noch nicht wirklich klar ist, wohin die Reise gehen soll und was es genau ist, was man hinter sich lassen und was man suchen möchte. Doch die Entscheidung ist so klar, dass man trotz all dieser Unsicherheiten losgeht.

 

Der Weg

 

Für viele Menschen beginnt der Weg über Körperübungen (asanas). Der Körper ist etwas Konkretes, das ist für uns in der Regel am besten zugänglich. Körperübungen können z. B. Yoga, Tai Chi, Entspannungsübungen wie Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung oder Gehen in der Natur sein. Während wir eine zunehmend feinere Wahrnehmung des Körpers erlangen, beruhigen sich auch der Geist und der Atem. Ein zweiter Schritt können Atemübungen (pranayama) sein. Auch sie beruhigen gleichzeitig den Geist und verfeinern die Körperwahrnehmung. Um den Geist gezielt anzusprechen, ist es sinnvoll, immer wieder gut ausgewählte Texte zu lesen, also Texte, die uns nach Innen führen. Die Lektüre gibt unserem Geist immer wieder neue Anregungen, die wir bei den Körper- und Atemübungen vielleicht selbst auch erfahren können.

 

Als weitere Möglichkeit möchte ich die Meditation (dhyana) nennen. Ich nenne sie zuletzt, da ich den Zugang zu ihr einfacher finde, wenn man bereits in den anderen Bereichen erste Erfahrungen gesammelt hat. Letztlich ist dies aber von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Die Meditation kann beispielsweise neue innere Räume eröffnen, einen Zugang zum Unbewussten schaffen, für Momente innerer Ruhe und Frieden sorgen. Dabei kann es sein, dass alte Samskaras an die Oberfläche kommen. Samskaras sind unbewusste Eindrücke und Erinnerungen, die man in der Vergangenheit gesammelt hat und die im Verborgenen wirken, wie unbewusste Ängste und Bedürfnisse, Wünsche und Traumata . Der Weg ist insgesamt nicht unbedingt ein Spaziergang. Er kann sehr schmerzvoll und anstrengend sein. Altes Leid, Traurigkeit und Schmerz kann auftauchen, das man dann bewusst durchlebt, um es so gehen zu lassen. Das kann viel Energie und Mut kosten.

 

Hindernisse

 

Aber nicht nur der Weg an sich kann mitunter schwierig sein. Es gibt auch Hindernisse von außen und von innen, die einen immer wieder vom Weg abbringen wollen. Äußere Umstände, die den Weg erschweren, sind zum Beispiel der Alltag, der mit all seinen Anforderungen, dem Stress, dem Zeitmangel, der Erschöpfung, es immer wieder zu einer Herausforderung macht, die Zeit, den Raum und die Energie aufzubringen, sich auf sich selbst und seinen Weg zu besinnen. Auch Rückschritte oder das Gefühl von Stagnation („Es tut sich ja nichts, ich komme gar nicht voran.“) mögen es manchmal schwer machen, „dabei zu bleiben“, nicht aufzugeben. Neben der Ungeduld kann auch eine innere Verunsicherung auftauchen, man fragt sich, ob dies überhaupt der richtige Weg ist.

 

Wenn dann noch erschwerend hinzu kommt, dass das äußere Umfeld negative oder kritische Bewertungen äußert, (beispielsweise weil nahestehende Menschen den Wandel bemerken, dies aber unbequem oder unverständlich für sie ist), dann wird es noch schwerer, sich und seiner „Suche“ treu zu bleiben. Meiner Erfahrung nach kann auch das Abflachen des Leids (z. B. neue Liebe, neuer Job, ausgeheilte Krankheit) dazu führen, dass man nachlässiger wird und plötzlich dem Alltag und dem „Außen“ wieder mehr Aufmerksamkeit widmet, als man eigentlich möchte.

 

Stärkungen

 

Glücklicherweise gibt es aber auch Aspekte, die einem immer wieder Rückenwind geben und einen bestärken, diesen Weg weiterzugehen. Das können zum Beispiel kleine Erkenntnisse sein, kleine positive Entwicklungsschritte im Innen und Außen (z. B. wenn ich auf nette, warmherzige Art zu jemandem Nein sagen konnte; wenn Menschen positiv auf mich zukommen; wenn schöne, unvorhergesehene Dinge passieren). Auch kleine Augenblicke der Ruhe und des Friedens, entweder auf der Yogamatte, aber auch im Alltagstrubel, können als Zeichen dienen, dass man auf dem richtigen Weg ist. Oder natürlich auch einfach das Bauchgefühl, „auf dem richtigen Weg“ zu sein.

 

Ziel

 

Dieser bewusste Blick nach innen, die Übungen und Wiederholungen (Abhyasa) führen uns letztlich auf einem spirituellen Weg zu mehr Verantwortung und Verbundenheit mit uns selbst und mit der Welt. Im Kleinen merkt man dies an anfangs winzigen, aber immer augenscheinlicheren positiven Veränderungen: so ist man im Alltag bewusster und aufmerksamer, man fühlt und strahlt mehr Klarheit aus, man kann seine eigenen Bedürfnisse und Grenzen besser wahrnehmen und mit „Herzenswärme“ kommunizieren, das Gefühl von Ruhe und Frieden stellt sich hin und wieder ein, man nimmt generell seinen Körper, seinen Atem, die Gefühle und Gedanken bewusster wahr, ohne sich mit ihnen zu identifizieren oder sich von ihnen mitreißen zu lassen. Das Ziel ist meines Erachtens also nicht, dass man mit einem allumfassenden, immerwährenden Glücksgefühl milde lächelnd auf einer rosa Wolke sitzt und von dort aus das chaotische Treiben auf der Welt betrachtet, sondern es sind diese kleinen Momente der Ruhe und der Zufriedenheit, für die man sich immer wieder bewusst entscheiden kann.

 

Auch wenn diese Zustände nicht lange anhalten oder man sich gefühlt immer wieder erneut darum bemühen muss, so erfährt man auf diesem Weg doch Selbstwirksamkeit. Man ist eben kein Opfer oder kein Spielball des Schicksals mehr, man deutet und bewertet die Lebenssituation selbst – und zwar nicht aus einer engen egozentrischen Perspektive heraus, sondern mit einem weiseren, weiteren, wohlwollenderen Blick auf sich und das Leben. Diese Erkenntnis führt letztlich zu mehr Freiheit und größeren Handlungsspielräumen. Man trennt sich von Illusionen, auch die eigene Person betreffend.

 

Darum soll es wohl bei Viveka gehen, was so viel heißt wie „Unterscheidungskraft“ oder „das scharfe Messer unterscheidender Intelligenz“. Letztlich geht es für mich dabei um Selbsterkenntnis und um Loslassen (vairaga), es geht darum neue Prioritäten in seinem Leben zu setzen und neue Werte zu leben. Dass dieser Weg ein leichter ist, sagt niemand. Einfach auf diesem Übungsweg (Sadhana) zu sein und immer wieder dahin zurückzukehren, wenn man sich verloren hat, darum geht es für mich im Leben.  

Kommentar schreiben

Kommentare: 0