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Sthira und Sukha – Stabilität und Leichtigkeit auf der Yogamatte und im Leben

Das Leben besteht aus Polaritäten und fordert uns immer wieder heraus hinzuschauen und eine Balance zwischen den Gegensätzen herzustellen, die Gegensätze in uns zu vereinen. Wenn wir über einen längeren Zeitraum ein „Zuviel“ des einen leben, verlieren wir unser Gleichgewicht. Das Leben wird dann anstrengend und möchte uns so darauf aufmerksam machen, dass etwas verschoben ist, dass ein Gegengewicht fehlt, um wieder in die Mitte und in Einklang zu kommen.

 

Das Zusammenspiel der gegensätzlichen Qualitäten kann man ganz konkret auf der Yogamatte erleben, zum Beispiel wenn dein Yogalehrer dich in der Kriegerposition daran erinnert, die Weite, Kraft und Stärke in den Armen bis hin zu den Fingerspitzen zu spüren und gleichzeitig den Schultergürtel wieder sanft und weich nach unten fließen zu lassen. Dann geht es nicht nur um die korrekte körperliche Ausrichtung in der Asanapraxis. Hier wird ein Prinzip vermittelt, das schon der indische Gelehrte Patanjali in seinem Yogasutra formulierte: sthira-sukham asanam (2.46) Dieses Sutra wird meist übersetzt mit: „Die (Meditations-)Haltung sollte stabil und angenehm sein.“ Doch – wie immer – geht es dabei nicht nur um die Praxis auf der Yogamatte. Das Gegensatzpaar sthira und sukha erinnert uns an das Berücksichtigen beider Pole, der Stabilität und der Leichtigkeit – auf der Yogamatte und im Leben.

 

Kleine Kinder verkörpern die sukha-Qualität. Das Sanskrit-Wort sukha bedeutet so viel wie Freude, Glück, Zufriedenheit, Leichtigkeit, Flexibilität. Patanjali beschrieb damit vor etwa zweitausend Jahren eine von zwei Qualitäten, die die ideale Meditationshaltung ausmachen. Sie sollte angenehm, komfortabel und leicht sein. Auch Adjektive wie mild, sanft, süß werden manchmal zur Übersetzung herangezogen. Es geht um eine weich-fließende Qualität, die mit Wohlgefühl einhergeht.

 

Wenn wir älter werden, lernen wir, dass wir im Leben dann vorankommen, wenn wir uns die andere Qualität aneignen, die Patanjali benennt, um den idealen Meditationssitz zu beschreiben: sthira. Damit ist Stabilität, Kraft, Stärke, eine klare Ausrichtung und Beständigkeit gemeint, aber auch ruhig und still werden, kraftvoll und bewegungslos zugleich in seiner Form zu sein. Dies erfordert auch Anstrengung und Mut.

 

In Zeiten von Stress und wenn wir uns unter Druck fühlen, reagieren wir meist mit einem verstärkten Fokus auf sthira. Statt flexibel zu bleiben und in eine sanfte Leichtigkeit zurückzukommen, richten wir uns noch stärker aus, wenden noch mehr Kraft und Stärke auf, um unsere Stabilität zu wahren. Eigentlich positive Qualitäten wie Festigkeit und Beständigkeit bekommen nun etwas Starres, Hartes. Das stille, unbewegliche und achtsame Ruhen in seiner Form wird zum verbissenen Festhalten und Ankämpfen gegen äußere und innere Widerstände.

 

Auf der Yogamatte erkennt man ein Zuviel an sthira zum Beispiel daran, dass die Schulter krampfhaft nach oben gezogen werden, man den Kiefer fest zusammenbeißt, um noch ein bisschen länger in der Haltung zu bleiben, als es einem im Moment eigentlich guttun würde. Auch eine gerunzelte Stirn deutet oft darauf hin, dass die Leichtigkeit, sukha, ein wenig zu kurz kommt. Hier, auf der Yogamatte, fällt es jedoch leichter, immer wieder achtsam durch den Körper zu gehen und wahrzunehmen, ob neben der Kraft und Stärke, die für die Aufrichtung und die Yogahaltung nötig ist, noch unnötige Spannung in anderen Körperstellen gehalten wird, die weich nach unten in den Boden abgegeben werden kann. Schön ist beispielsweise sich vorzustellen, dass das gesamte Gesicht lang und weich nach unten fließen darf. Beim Krieger kann man sich vorstellen, dass sich die Arme sanft auf der Wasseroberfläche eines Sees ablegen dürfen, die Schultern dabei entspannt nach unten fließen. Bei Savasana, der Endentspannung in Rückenlage, ist es hilfreich, bewusst die Handflächen nach oben zu öffnen, damit das Gehirn an den gesamten Körper das Signal schicken kann: „Jetzt darfst du ganz loslassen, die Schultern dürfen nach unten fließen, die Finger dürfen sich nach oben entspannen.“

 

Natürlich kann das Pendel auch in die andere Richtung ausschlagen, was allerdings seltener vorkommt. Ein Zuviel an sukha hat eher etwas mit einem Zuwenig an sthira zu tun, denn eine glückliche, zufriedene Haltung kennt ja nach oben hin keine Grenze. Dennoch ist es auch für die sukha-Qualität wichtig, dass die Leichtigkeit geerdet ist, dass das Fließen und Im-Flow-Sein auch eine zugrundeliegende Stabilität, einen Anker hat, damit man sich, wenn die Zeiten stürmisch werden, auch wieder ausrichten kann und in seiner Form in die Stille zurückkommen kann. Ein ausgewogenes Leben braucht eben beides: Stabilität und Leichtigkeit.

 

Auf der Yogamatte kann man bei sthira-Mangel üben, mit angemessener Anstrengung in eine stabile Form zu kommen, indem man beispielsweise im Krieger die Streckung der Arme bewusst ganz bis in die Fingerspitzen hinein verlängert und dann auch die Verbundenheit der Beine über die Füße, die Fußballen, Fersen und Fußaußenkanten mit dem Boden wahrnimmt. Das fokussiert unseren Geist und bringt uns ganz zu uns selbst und in unseren Körper zurück. Idealerweise nimmt man weiterhin gleichzeitig das Gefühl von Loslassen und Nach-unten-fließen-Lassen der Schultern wahr.

 

Im Leben ist es meist nicht ganz so leicht wie auf der Yogamatte wahrzunehmen, ob sich sthira und sukha im Gleichgewicht befinden. Aber vielleicht hilft uns hier das Bild des Bambus, welcher oft als Symbol für Resilienz herangezogen wird. Wenn wir wieder meinen, wir müssten den Stürmen des Lebens einzig und alleine dadurch trotzen, indem wir mehr Kraft aufwenden, härter und starrer werden, dann lohnt es, sich an den Bambus zu erinnern. Neben seiner guten Verwurzelung macht ihn gerade auch seine Flexibilität und Beweglichkeit so widerstandsfähig, das sanfte, leichte Mitschwingen mit dem Wind, mit dem Leben. Denn letztlich geht es nie um die Entscheidung für das eine oder gegen das andere, sondern um ein Sowohl-als-auch, um das Zusammenkommenlassen und Vereinen der Gegensätze zu einem harmonischen Ganzen.

 

Und damit nicht nur der Verstand, sondern auch der Körper versteht, worum es dabei geht – denn auch hier wollen die Gegensätze vereint werden – jetzt am besten gleich in die Kriegerposition und wahrnehmen wie sich sthira und sukha für dich eigentlich  a n f ü h l t. Viel Freude beim Ausprobieren und Reinspüren! 

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Kommentare: 1
  • #1

    Katrin (Montag, 05 März 2018 20:54)

    Hallo deine Seite gefällt mir richtig gut. Und dein Logo ebenfalls.
    Sthira hast du sehr gut beschrieben. Viele Grüße Katrin Beckmann