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When the student is ready, the master will appear

Da saß ich, auf einem Felsen am Meer. Der Atlantik vor mir, der Jakobsweg hinter mir. Endlich angekommen, nach drei Jahren und insgesamt 900 Kilometern auf dem „Camino“, wie die Pilger ihn liebevoll nennen. Angekommen in Finisterre, dem Ziel meiner Reise. Angekommen bei mir. Ein kurzes Atemanhalten, bevor der Rhythmus des normalen Lebens wieder einsetzen würde, mich die Strudel des Alltags immer mal wieder weg von mir ziehen und mich zu mir zurückbringen würden. Wie eine Pendelbewegung. Aber dieser Moment auf dem Felsen am Kap Finisterre: eine fast greifbare Ruhe, eine unbeschreibliche Weite. Nur ich, das Meer und der Sonnenuntergang.

 

Und dann warst da du. Aus dem Nichts, kein Mensch weit und breit, warst du plötzlich da, saßt auf dem Felsen vor mir, schautest mich an. Kannten wir uns? „Are you the Italian guy I talked to this afternoon?“ Nein, der warst du nicht. Irgendwann saßt du auf dem Felsen neben mir. Ich bot dir etwas von meinem Käsesandwich und dem Schokomuffin an. Ein Wort ergab das nächste. „Was, du auch?“ Wir entdeckten unzählige Parallelen. „I’m a sensitive one“, sagtest du und öffnetest mir die Tür zu deiner inneren Welt. Du zeigtest mir, dass es Männer gibt, die keine Angst haben, sich zu öffnen und über ihre Gefühle zu sprechen. Dass es Männer gibt, die mit ihrem Herzen verbunden sind.

 

Wir rätselten, ob jemand mit Photoshop einen Kitsch-Filter über den Sonnenuntergang gelegt haben könnte, solche Farben gebe es doch im realen Leben gar nicht. Aber doch, es gab sie. Genau wie unsere Begegnung.

 

Als es etwas dunkler wurde, bemerkte ich, dass Sonne und Mond gleichzeitig am Himmel standen, im selben Augenblick, als du es aussprachst. „And look, this is Mars and, wait … over there, that’s Mercury.“ Du sprachst über die Sterne, als wären sie deine Heimat und auch meine, und ich sah dich an und etwas machte Klick in mir. Wir verloren das Gefühl für Raum und Zeit. Wir waren keine Fremden mehr, die da auf einem Felsen am Meer saßen, sondern zwei Seelenverwandte, merkwürdig vertraut, auf einer gemeinsamen Welle schwingend. Ich lauschte deiner Stimme, staunte über deine Weisheit und dein offenes Herz.

 

Unbemerkt waren wir plötzlich in dunkle Nacht gehüllt. Ganz selbstverständlich standen wir zusammen auf und gingen gemeinsam, als hätten wir nie etwas anderes getan, im schwachen Mondlicht zum Leuchtturm, um dort deine durchgelaufenen Jakobsweg-Sandalen abzulegen. Durch die Dunkelheit liefen wir zurück nach Finisterre, fanden eine kleine Bar, die noch offen hatte, und tranken auf einem einsamen Dorfplatz in dieser lauen Sommernacht, in der die Welt um uns herum bereits zu schlafen schien, ein Bier und ein Glas Sangria.

 

Du brachtest mich zu meiner Unterkunft zurück, wir verabschiedeten uns. Unfähig zu begreifen, was gerade passiert war, stand ich in meinem Zimmer. Es gibt Begegnungen, die einen tiefen Eindruck hinterlassen. Aber was war das? Eine magische Begegnung auf dem, im wahrsten Sinne des Wortes, allerletzten Meter des Jakobswegs. An einem Ort, an dem sonst ganze Scharen von Pilgern aus der ganzen Welt ihren Abschied vom Camino feiern. Doch an diesem Abend waren nur du und ich am Kap. Wieso sollten wir uns treffen? War all das nur ein Traum?

 

Mein Handy holte mich mit einem leisen Plopp zurück ins Jetzt. „Do you realize we might not see each other again? Maybe it was just this one beer, sangria and sunset.“ Auch du wolltest verstehen, wieso der Jakobsweg auf diese besondere Art und Weise unsere Wege kreuzen ließ. Ich wusste, dass du am nächsten Morgen früh nach Santiago zurück musstest, um deinen Flug zu erreichen. Ein Flug in deine Heimat, ans andere Ende der Welt. Doch die Nacht hatte noch ein paar Stunden, bevor es hell werden und dein Bus dich nach Santiago bringen würde.

 

Später in dieser ersten, letzten, einzigen Nacht hielten wir uns im Arm. Wir sprachen kaum, schauten uns nur an. Es war nicht mehr wichtig zu verstehen, es reichte, einfach da zu sein. Zu fühlen, wie auf einer anderen Ebene unsere Energien miteinander kommunizierten, sich austauschten über Dinge, die wir nicht in Worte hätten fassen können. Da zu sein. Präsent zu sein in diesem gemeinsamen Augenblick.

 

Einige Zeit später schriebst du mir, dass dir der Satz nicht aus dem Kopf gehe: „When the student is ready, the master will appear.“ Du hättest den Eindruck, es sei für dich wichtig gewesen mich, den „master“, zu treffen, „this beautiful girl, full of light“ dort auf diesem Felsen. Ich musste lachen. Für mich warst du der „master“, dessen Augen strahlten, der etwas in mir berührte, der eine Türe in mir öffnete und etwas zum Fließen brachte.

 

Manchmal fragte ich mich, wieso wir nur diese wenigen gemeinsamen Stunden miteinander hatten, obwohl es doch gefühlt noch so viel zu entdecken und zu lernen gab. Dann entdeckte ich, dass das bekannte buddhistische Sprichwort eigentlich noch aus einem weiteren Satz besteht:

 

When the student is ready, the master will appear. When the student is truly ready, the master will disappear.

 

Oft begegnen wir Menschen, die uns tief berühren und dann plötzlich und gefühlt viel zu früh wieder aus unserem Leben verschwinden. Wenn Menschen gehen, die uns wichtig erscheinen und die für uns Halt und Wegweiser sind, dann bedeutet das manchmal, dass wir nun bereit sind, auf eigenen Beinen zu stehen. Dass wir bereits mehr Kraft und Weisheit in uns haben, als uns bewusst ist.  

 

Durch die Begegnung und die Gespräche mit dir habe ich begriffen, dass du mir etwas geschenkt hast, das ich nun für mich alleine weiterentwickeln kann, und ich weiß, dass das, was ich bei dir anstoßen durfte, ebenfalls weiterwirken wird. Ich danke dir für dieses Geschenk und für deine Offenheit und diese wundervolle, magische Begegnung, damals auf dem Felsen von Kap Finisterre.

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