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Liebe Angst, mach mal Urlaub

Liebe Angst,

 

wir kennen uns – schon lange. Du warst stets ein treuer Begleiter, hast mich in vielen Situationen gewarnt, wenn es brenzlig für mich wurde. Dann hast du meine Sinne geschärft, mich bereit gemacht für die Flucht oder den Kampf. Aber ich glaube, es liegt da ein Missverständnis vor.

Du meinst, ich wäre permanent in Gefahr, obwohl ich nur ein bisschen in die Welt hinauswandern will, mit manchmal mutigen, manchmal wackligen Schritten aus meiner Komfortzone heraustrete. Du meinst, mit jedem Schritt ins unbekannte Neue sei ich in Gefahr. Dabei bin ich nur dabei meine alte Seelenheimat zu entdecken. Ich wandere auf einem alten, wohlbekannten Pfad. Ich bin auf dem Weg nach Hause.

Du meinst, du seist mein Beschützer, der ständig die starke, schützende Hand über mich halten muss, damit ich sicher bin. Merkst du nicht, dass ich kein kleines Mädchen mehr bin, dass ich Kraft gewonnen habe und innere Stärke? Dass du mich mit deinem überbehütendem Beschützerinstinkt klein hältst und auf subtile und machtvolle Weise zurückhältst? Dass du mich daran hinderst, in die Welt hinauszugehen, zu wachsen, ich selbst zu werden? Du hältst mit deiner starken Hand vielleicht die größten Sturmböen von mir ab, aber gleichzeitig auch die Wärme der Sonne, den reinigenden Regen, den erfrischenden Wind – alles, was zu einem lebendigen Leben dazugehört, was man für Wachstum benötigt. Merkst du nicht, dass ich mich recke und strecke und große Sehnsucht habe, wie die Knospen im Frühjahr aufzubrechen, um die zarten Blätter und Blüten dem Licht entgegenzustrecken?

Ja, du hast recht. Ich bin dabei, alte Schutzhüllen abzustreifen, hinter denen ich mich bisher versteckt habe und vermeintlich geborgen fühlte. Und ja, damit mache ich mich verletzlich und verwundbar. Aber merkst du nicht, dass in dieser Verletzlichkeit auch etwas sehr Wahres und unbeschreiblich Schönes steckt? Dass ein Leben ohne Risiko, Mut und Vertrauen bedeutet, klein und eng und voller Sorge, Angst und Zweifel in seinem Kokon zu verharren und zu erstarren? Dabei möchte ich aus dieser Enge herauskriechen, meine Flügel weit aufspannen und testen, ob sie mich tragen.

Du meinst, ich begebe mich in Gefahr, wenn ich mich zeige, wie ich bin. Du meinst, ich könnte „zu viel“ sein, ich könnte verlassen werden, verbannt von der Gesellschaft, Leid erfahren an Leib und Seele. Liebe Angst, ich kann dich verstehen. Ich weiß, dass dir noch viel in den Knochen steckt. Ich weiß, dass du mein Bestes willst. Doch merkst du nicht, dass du Energie von mir abziehst, wenn du mich festhältst, die ich eigentlich brauche, um mich von Altem zu lösen? Dies sind andere Zeiten. Ich bin sicher. Du darfst mir vertrauen und langsam loslassen. Ich kann nun selbst die Verantwortung für mein Leben übernehmen.

Du meinst, dass ich zu feinfühlig bin, dass die Welt immer komplexer wird und die äußeren Reize immer mehr werden. Du meinst, dass die großen Veränderungen im Innen und im Außen mich wegspülen, mir den Halt wegreißen könnten. Doch merkst du nicht, dass ich dann besseren Schutz und Zuflucht finde bei deinen Freunden – bei dem Vertrauen, dem Mitgefühl, dem Mut und der Zuversicht? Dass Stabilität nicht bedeutet, ängstlich, klein, hart und verschlossen zu sein, sondern weich und beweglich zu bleiben, gut verankert in sich selbst zu sein und gleichzeitig mitzuschwingen?

Du meinst, du müsstest immer auf dem Sprung sein, jederzeit bereit mir mögliche Probleme und Komplikationen aufzuzeigen, damit ich mich rechtzeitig wappnen kann und Plan B und C bereit liegen habe. Merkst du nicht, dass du damit die Freude und Leichtigkeit erstickst? Dass du mir die Energie nimmst, dann spontan und kraftvoll zu reagieren, wenn es tatsächlich notwendig wird? Dass du ungefragt Überstunden machst und durch die permanente Anspannung mein ganzes System auslaugst? Dass du dadurch überspannt und gereizt wirst und viel zu oft überreagierst?

Liebe Angst, mach mal Urlaub! Nimm am besten deinen Freund Sorge mit. Ich schicke euch beide gerne für einige Zeit in den fernen Süden. Lasst euch die Sonne auf die Bäuche scheinen, faulenzt in der Hängematte, schlaft und schlemmt und verliert gerne auch ein bisschen eure toptrainierte Form.

Liebe Angst, wenn du dann erholt wieder zurückkommst, steht meine Tür offen für dich.

Ich weiß, dass Teile von dir uralt sind, dass sie weitergeben werden über Generationen, dass sie mitgenommen werden aus früheren Erfahrungen und auch dass sie im Feld sind, in dessen Kontext man sich bewegt, und man sie automatisch – egal ob man feinfühlig ist oder nicht – von der Zeitqualität und seinen Mitmenschen übernimmt. Ich weiß aber auch, dass du unter anderem so groß und polternd geworden bist, weil ich dich viel zu lange ignoriert habe. Ich habe dir oft das Adjektiv „unterschwellig“  an die Seite gestellt und dich, so oft es ging, unter den Teppich gekehrt, weil gerade Wichtigeres anstand oder weil ich tapfer sein wollte. Ein Indianer kennt ja bekanntlich keinen Schmerz. Ich weiß, dass du nicht unbegründet da warst, dass du mir eigentlich etwas sagen wolltest. Du wolltest, dass ich dir zuhöre, aber ich habe dich aus dem Raum geschoben und ignoriert. Oder ich habe mich an dir festgeklammert, dich in meinem Kopf herumsausen lassen, ohne dir den heilsamen Raum zu geben, dich einfach in meinem Körper zu zeigen und gefühlt zu werden – eine Welle, die sich aufbaut und dann wieder gehen darf.

Liebe Angst, du darfst weiterhin ein Teil von mir sein, aber du bist nicht mein Reiseführer. Du darfst dich entspannt auf den hintersten Sitz des Busses verkrümeln und die Fahrt genießen. Ich weiß, dass du dich manchmal noch übermäßig aufblähen wirst und das Mikro wild an dich reißen willst. Ich werde deinen Worten dann aufmerksam lauschen, mit ein bisschen Distanz betrachten, was du mir mitteilen möchtest. Ich weiß mittlerweile, dass es dann, wenn du dich ganz groß und bedrohlich machst, das größte Entwicklungspotential zu entdecken gibt, dass es unklug wäre, einfach die Lautstärke abzudrehen oder dir vor Schreck den Fahrersitz zu überlassen. Ich werde dir zuhören und dich dann an die Hand nehmen, um zu fühlen und zu entdecken, was es zu fühlen und zu entdecken gibt.

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