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Eine Ode an die Muße

 

Seit einem halben Jahr bin ich im Sabbatjahr und eine Frage, die ich seither sehr häufig höre, ist: „Sag mal, was tust du eigentlich den ganzen Tag?“ Vor ein paar Monaten wurde mir bei dieser Frage noch heiß und kalt, der Puls beschleunigte sich und mein Gehirn suchte fieberhaft nach halbwegs plausiblen Erklärungsversuchen, mit denen ich meine scheinbare Unproduktivität dem Fragenden gegenüber rechtfertigen konnte, während ich mich gleichzeitig dabei ertappte, wie ich mich selbst fragte, ob ich nicht vielleicht gerade dabei war, die beste Zeit meines Lebens zu vertrödeln.

 

Heute kann ich bei dieser Frage meist entspannt lächeln, einen Moment innehalten und dann – je nach Gegenüber – antworten: „Ich unterrichte jetzt Yoga und bilde mich fort.“ Oder „Ich mache eine Reise nach innen.“ Oder manchmal auch: „Eigentlich versuche ich, gar nicht so viel zu TUN, sondern mehr zu SEIN.“ Der zuletzt genannten Antwort schiebe ich meist eine gehobene Augenbraue hinterher, quasi ein Zwinker-Smiley im realen Leben, um anzudeuten, dass dies natürlich ein bisschen überspitzt formuliert ist, dass ich eigentlich schon noch ganz „normal“ und im Grunde genommen auch noch die „Alte“ bin. Und gleichzeitig frage ich mich, wieso es gefühlt immer noch zumindest eine „Zwinker“-Abmilderung braucht, wenn ich doch eigentlich nur sagen möchte: „Leute, ich bin einfach da! Ich genieße es, in den Tag hineinzuleben, mich von der Muße küssen zu lassen. Endlich mal auszuschlafen. Alles in Ruhe tun zu können. Die Seele baumeln zu lassen. Das zu tun, worauf ich wirklich Lust habe.“

 

Und eigentlich ist dies alleine schon wieder eine kleine Leistung: zu tun, worauf man wirklich Lust hat. Ohne sich zu rechtfertigen. Sich von der Muße küssen zu lassen. Einfach so, ohne auf ein Endprodukt zu schielen oder sich einen persönlichen Gewinn zu erhoffen. Denn wie oft meinen wir, unsere Freizeit zu genießen, aber sind doch eigentlich gesteuert von Fremdinteressen und Freizeitstress, dem Drang, auch unsere freie Zeit möglichst sinnvoll und effizient bis zur letzten Minute auszunutzen. So ging es auch mir. In den drei Jahren, in denen ich auf mein Sabbatjahr sparte und voller Vorfreude Ideen sammelte, was ich in dem freien Jahr alles tun, sehen, lernen, entdecken und erreichen wollte, entstand eine Liste, mit der ich ohne Probleme fünf aufeinanderfolgende Sabbatjahre hätte füllen können. Allesamt tolle Projekte, Aktivitäten und Reisen, die mich bestimmt bereichert und beflügelt hätten.

 

Doch als etwa ein halbes Jahr, bevor mein Sabbatjahr beginnen sollte, allmählich die ersten Fragen meiner Mitmenschen hereinflatterten, was ich denn nun genau vorhatte mit dieser besonderen Chance eines freien Jahres, da antwortete ich merkwürdigerweise etwas verhalten mit dem kleinen Sätzchen: „Ach, ich lasse das Jahr einfach mal auf mich zukommen.“ Obwohl ich eigentlich noch im alten Plan- und Organisiermodus war, gab es da scheinbar schon etwas in mir, das bereits besser als mein Verstand wusste, dass ich eigentlich gar keine Lust hatte, im Voraus große Pläne zu schmieden, jeden Tag durchzuplanen und das Maximum aus diesem Jahr herauszuholen. Eigentlich wollte ich mich einfach von dem Jahr überraschen lassen, ihm die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln, ich wollte mehr mit dem Fluss des Lebens schwimmen. Denn: wenn ich immer auf dem direkten, vorgeplanten Weg von A nach B bin, dann habe ich gar keine Zeit zu erkennen, wenn mir das Leben eigentlich einen tollen Weg nach C oder D anbietet, an Orte, die ich vielleicht gar nicht kannte bzw. von denen ich nie zu träumen gewagt hätte.

 

Eigentlich wusste ich all das, und doch brach jedes Mal eine leise Panik in mir aus, wenn von außen die großen Erwartungen an ein Sabbatjahr an mich herangetragen wurden. „Was, du planst keine große Weltreise?! Das ist doch eine einmalige Chance! Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Ja, ich möchte ja auch reisen, dachte ich dann still für mich. Aber eben nach innen. Da gibt es so viel zu erforschen, so viel Neues zu entdecken, Altes hinter sich zu lassen. Doch aussprechen konnte ich das noch nicht. Im Gegenteil, die Verweise auf Agenturen, die beim Planen bzw. Maximieren der Sabbatjahrerfahrung helfen, Reiseberichte und -pläne von anderen und die hartnäckigen Fragen von außen brachten mich immer wieder dazu, an meinem Wunsch, das Jahr einfach auf mich zukommen zu lassen, zu zweifeln.

 

Mein Sabbatjahr stand kurz bevor und ich hörte im Radio einen Bericht einer jungen Frau, die gerade ihr Sabbatjahr beendet hatte und von einer großen Weltreise zurückgekehrt war. Sie berichtete von den Erlebnissen in der Ferne, die meist schön und bereichernd, teilweise auch anstrengend waren – und ich bereitete mich gedanklich schon auf meinen inneren Zweifler vor, der jetzt bestimmt gleich wieder in meinem Kopf mit stolzgeschwellter Brust herumstolzieren würde. „Siehst du, so viele schöne Erfahrungen beim Reisen!“ Doch dann zog die junge Frau ihr Resümee und sagte, dass sie nach der Reise nach Hause kam und merkte, dass sie zwar eine tolle Zeit gehabt hatte, sie aber eigentlich vor ihren Themen geflohen war. Als sie zurückkam, war in ihrem Leben wieder alles beim Alten, dabei hätte sie gerne einiges entscheidend geändert, beruflich und privat. Sie wollte eigentlich herausfinden, wer sie wirklich ist und was sie im Leben möchte, doch durch die vielen äußeren Eindrücke und Reize beim Reisen, sei sie gar nicht dazu gekommen. „Oh“, flüsterte mein innerer Kritiker leise. „Ihr geht es ja so wie dir. Vielleicht ist dein Wunsch nach einer Reise nach innen doch nicht so verkehrt.“

 

Jetzt liegt bereits die Hälfte des Sabbatjahres hinter mir und ich kann bestätigen: das Leben gibt dir genau das, was du brauchst. Die Reise nach innen, die ich zwar antreten wollte, jedoch noch ohne zu wissen, wie genau dies gehen würde, begann einfach von ganz alleine. Völlig anders als erwartet und auch rasanter als gedacht. Plötzlich war ich mittendrin. Alles, was es dafür brauchte, war die Bereitschaft, die Zeit, der Raum, die Muße. Und auch die Geduld. Auch wenn die Reise nach innen bereits begonnen hatte und mich in unbekanntes Terrain führte, dauerte es eine Weile, bis der alte „Ich müsste doch irgendetwas tun“-Modus sich langsam herunterfahren konnte und stattdessen das nach oben aufzusteigen begann, was tief drinnen schlummerte. Die Kreativität zum Beispiel, die Freude an der Schönheit der kleinen Dinge, längst verschüttete Wünsche und Ideen, Talente und Begabungen, die im straffen Tagesablauf des durchgetakteten, auf Selbstoptimierung und Effizienz ausgerichteten Lebens keinen Platz haben. Die Magie von kleinen Momenten und besonderen Begegnungen, die sonst unbemerkt an einem vorbeigerauscht wären. Die innere Stimme, die im Alltagsgetöse viel zu oft untergeht. Endlich zu merken, was man WIRKLICH tun möchte, wenn zumindest einige der äußeren Verpflichtungen wegfallen und man allmählich erkennt, dass viele der bisherigen Ziele eigentlich gar nicht die eigenen waren.

 

Plötzlich entdeckt man neue Facetten an sich, neue Möglichkeiten, der Horizont weitet sich – obwohl noch immer derselbe Baum im Blickfeld steht, wenn man aus dem Fenster schaut, dieselben Nachbarn auf dem Balkon gegenüber, das altbekannte Zwitschern der heimischen Vögel. Keine tropischen Palmen am Sandstrand, keine exotischen Tiergeräusche oder hippe Cocktailbarbesucher in einer fernen Großstadt, die sich vor der Smartphonefotolinse zu einem flüchtigen Gemeinschaftsgrinsen einfinden. Es ist ein innerer Horizont, der sich weitet.

 

Obwohl ich früher schon viel gereist bin und im Ausland gelebt habe, ist dies mit Abstand die spannendste Reise, auf der ich je war. Auch sie ist nicht immer leicht, aber auch sie belohnt mit unbeschreiblich schönen Momenten und berührenden Begegnungen.

 

Es fällt mir auch heute noch immer nicht leicht, Fragenden verständlich zu erklären, was ich den ganzen Tag über so mache. Aber immerhin kann ich dies nun mit einer größeren Portion innerer Gelassenheit tun. Auch wenn die Außenwelt es manchmal noch nicht versteht, immerhin verstehe ich es jetzt selbst: Ich gebe der Muße endlich wieder die Chance, mich zu küssen.

 

Wann hast du dich das letzte Mal von ihr küssen lassen?

 

Die Muße ist übrigens, ihrer Wortherkunft aus dem Altgriechischen nach, auch mit Ruhe, Studium, Verzögerung und Langsamkeit verwandt. Ein kreativer Schöpfungsprozess also, der aus dem Nichtstun heraus entsteht, sich natürlich entfaltet und mit Freude, Leichtigkeit und Entschleunigung verbunden ist. Man kann die Muße leider nicht herzitieren oder einen Termin mit ihr vereinbaren. Man braucht dazu zwar kein ganzes Sabbatjahr, aber ein bisschen Freiraum, Zeit fürs Nichtstun oder für ziellose, in sich versunkene Aktivität braucht es schon. Und wer weiß, vielleicht guckt die Muße dann ganz unverhofft um die Ecke und bleibt – zumindest bis das nächste „Was tust du denn eigentlich den ganzen Tag?“ unserer Mitmenschen sie meist wieder verscheucht. Doch vielleicht antworten wir dann irgendwann ganz selbstbewusst: „Pssst, ich lasse mich gerade von der Muße küssen. Verscheuch sie nicht. Vielleicht möchtet ihr euch auch mal kennenlernen?“

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Kommentare: 1
  • #1

    Andreas Thumm (Montag, 07 Mai 2018 17:08)

    welch wunderbarer Beitrag Bettina ... Hut ab vor der unkonventionellen Entscheidung "Nichts" zu tun ! ich erlebe dich weiterhin gerne mit deiner entspannten Freundlichkeit in deinen Yogastunden ...