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Vielleicht irre ich mich

 

Vielleicht irre ich mich, doch wenn die Menschen sagen, ich sei zu idealistisch, dann spüre ich keine Resonanz. Wieso darf ich nicht daran glauben, dass es möglich ist, aus dem Hamsterrad des Immer-Schneller und Immer-Weiter auszusteigen? Wieso habe ich nicht das Recht, mir ein Umfeld zu suchen oder zu schaffen, in dem man auf gute und gesunde Art leben und arbeiten kann? Ein Umfeld, das Zeit und Raum lässt, zum Nachspüren, zum Kräftesammeln, zum Zur-Ruhe-Kommen, um aus dieser inneren Klarheit und Zentriertheit erneut in Kontakt zu treten und die nächsten Schritte zu gehen. Dass es möglich ist, auch Herz, Seele und Körper zu sein und nicht auf einen analytischen, scharfen Verstand reduziert zu werden. Dass es Menschen gibt, die die Sehnsucht und den Glauben daran teilen, dass nun eine neue Zeit beginnt. Dass wir nicht so weitermachen müssen wie bisher. Dass wir uns nicht mit dem, wie es immer schon war, zufrieden geben müssen. Dass wir neue Wege finden und gehen dürfen. Dass es nicht mehr nur um das Tun und Handeln geht, sondern immer mehr auch um das Sein.

 

Vielleicht irre ich mich, doch wenn die Menschen sagen, ich solle mich mit dem kleinen Glück zufriedengeben, dann spüre ich Wut. Wieso darf ich mich nicht strecken und recken und wachsen, um den Apfel am Baum zu erreichen, der hoch oben nahe der Sonne so groß und rund und glänzend gewachsen ist? Wieso soll ich mich mit den kleinen, verschrumpelten Äpfeln zufrieden geben, die im Schatten nahe am Boden wuchsen und mir ohne große Mühe in den Schoß fallen, die mich aber nicht nähren, meinen Hunger nach dem Lichtvollen nicht stillen? Wieso soll ich mich mit dem verdammten Spatz in der Hand zufrieden geben, wenn ich tief drin im Innern weiß, dass die Taube auf dem Dach mich ruft und auf mich wartet. Dass ich es mir nur erlauben muss, zu wachsen, zu klettern, etwas zu riskieren. Dass ich ausbrechen darf aus dem Gefängnis der „Entschuldigung, dass ich da bin“-Gedankenmuster. Dass ich groß und weit und strahlend werden darf. Dass ich die Fülle leben und erfahren darf. Dass die Sterne darauf warten, dass ich endlich nach ihnen greife. Dass die Zeit gekommen ist, ganz zu werden, authentisch zu sein, heil zu werden – und dass sich dies auch im Außen zeigen darf.

 

Vielleicht irre ich mich, doch wenn die Menschen sagen, ich solle meine Sehnsucht nach tiefer, echter Verbindung und Nähe für mich behalten, dann spüre ich ein inneres Aufbegehren. Wieso soll es nicht möglich sein, einem Menschen zu begegnen, der nicht vor Nähe zurückschreckt? Ein Mensch, der ebenso tiefe Verbundenheit sucht, mit sich selbst und mit einem Du. Der Lust hat auf innere und äußere Entwicklung und gemeinsames Wachstum. Der nicht bloß ein menschliches Etwas sucht gegen die Einsamkeit dunkler Winterabende oder als Begleitung zu sommerlichen Grillabenden, weil man da ab einem bestimmten Alter nur noch im Doppelpack auftauchen kann, weil es gesellschaftlich erwartet wird, einen Partner zu haben, und weil es im Alltag schlicht und einfach auch angenehm und praktisch ist. Das mag manchen genügen, doch wieso darf ich nicht sagen: Mir genügt das nicht! Wieso habe ich kein Recht darauf, meinem Partner in die Augen zu schauen und ihm einen tiefen Blick in meine Seele zu gestatten? Ihm meine Verletzlichkeit zu zeigen, meine Sehnsucht, meine Wunden und meine Stärke? Wieso soll ich alles runterdimmen, klein und vermeintlich ungefährlich halten? Wieso soll ich alles mit mir selbst ausmachen und Verbundenheit ausschließlich in mir selbst finden? Wieso darf ich mich nicht zeigen wie ich bin, mit all meinen Sehnsüchten und Bedürfnissen? Und wieso darf ich nicht erwarten, dass mein Gegenüber dies auch tut?

 

Vielleicht irre ich mich, doch wenn die Menschen sagen, ich solle mich weniger in Seelenräumen bewegen, dann spüre ich eine Traurigkeit. Wieso soll ich diese wundervolle, große, unbeschreiblich schöne Dimension nicht in mein Leben integrieren, nur weil sie für manche Menschen unbekanntes Terrain ist, das ihnen Angst macht? Wieso wollen sie mich in ihrem kleinen, engen, wohlbekannten Raum halten, wenn ich doch gut verwurzelt mit beiden Beinen fest auf dieser Erde stehe und trotzdem, zeitgleich und ganz ohne Anstrengung, angebunden bin an etwas, das größer und weiter ist als dieser kleine, für die meisten Menschen einzige bekannte Raum. Wieso wollen manche Menschen mir die Flügel stutzen, die wir doch bekommen haben, damit wir fliegen können? Nur weil wir sie lange Zeit – über hunderte, tausende von Jahren –  nicht genutzt haben, heißt es nicht, dass wir es nicht mehr können: unsere Flügel ausbreiten, sanft den Wind unter den Schwingen spüren, uns tragen lassen, die Leichtigkeit und Weite um uns herum spüren, um dann sanft wieder zu landen. Es macht mich traurig zu sehen, dass viele Menschen ihre Flügel vergessen haben und der jungen Generation nun einreden, wir hätten keine oder sie seien nur schmückendes, nutzloses Beiwerk.

 

Vielleicht irre ich mich, doch wenn die Menschen sagen, ich sei zu viel, dann spüre ich Wut. Wieso darf ich nicht intensiv sein oder emotional oder strahlend? Wieso muss alles angepasst sein an das gesellschaftlich akzeptieren Maß? Wieso werde ich belächelt, wenn ich beschwingt durch das Leben tanze? Wenn ich meinem inneren Wissen folge, dass es mehr und Schöneres und Größeres gibt, als wir uns zu erhoffen wagen. Wieso darf ich nicht meinen Schmerz spüren und mich meinen inneren Wunden zuwenden, statt so zu tun, als ginge es mir ständig gut? Wieso darf ich nicht trauern, mich zurückziehen, mich selbst wieder finden? Wieso darf ich nicht strahlen und von dem großen Glück erzählen, das ich suche und das auf mich wartet? Wieso darf ich nicht in die Tiefe meiner und der Weltenseele tauchen, in die Höhe des Himmels fliegen, die seelischen Landschaften und Dimensionen entdecken, die unser Zuhause sind? Wieso darf ich nicht anderen in die Augen schauen und mich zeigen, wie ich bin?

 

Vielleicht irre ich mich, doch wenn die Menschen sagen, ich hätte dasselbe vom Leben zu erwarten wie sie und wie unsere Ahnen und Urahnen, dann spüre ich keine Resonanz.

 

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich irre, breite ich dann lieber meine Flügel aus und folge tanzend meinem Weg, durch Täler und über Höhen. Im Gepäck: das Vertrauen auf mein Gefühl, mein inneres Wissen, meine Intuition.

 

Denn immerhin: Es besteht die Möglichkeit, dass ich mich nicht irre. Und schon dieser Ausblick ist es wert, die erstarrte Faust zu öffnen und den kleinen, zerzausten Spatz endlich freizugeben. Und wenn die Taube auf dem Dach sich nicht zeigt, vielleicht lohnt es sich dann, den Blick noch höher zu richten und nach dem Adler Ausschau zu halten.

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