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Der weibliche Weg

 

Seit über fünf Jahren bin ich auf einem Weg, den ich am Anfang noch gar nicht hätte beschreiben können. Ich wusste nur, dass irgendetwas in meinem Leben nicht stimmte, dass etwas nicht im Einklang war, dass mich etwas rief. Nur wohin meine Reise ging, warum und wieso ich mich auf die Suche machen musste und nach was – all dies war mir nicht klar. Ich wusste nur, ich musste einem dringlichen Ruf folgen, den ich damals weder benennen noch zuordnen konnte. Heute weiß ich, es war der Ruf meiner Seele. Genauer, der Ruf meiner weiblichen Seele. Es war der Ruf, nach Hause zu kommen, mich selbst und meine Aufgabe in diesem Leben zu erkennen.

 

Weil immer mehr Menschen – hauptsächlich Frauen, aber auch immer mehr Männer – diesen Ruf ihrer Seele ebenfalls hören, möchte ich heute etwas persönlicher über meinen Weg schreiben. Mir hätte es damals geholfen zu sehen oder zu hören, dass andere Frauen (und Männer) ähnliche innere Prozesse durchlaufen, dass das, was ich erlebe, fühle und wahrnehme, „normal“ ist, dass ich nicht alleine damit bin.

 

Mit den Begrifflichkeiten tue ich mich noch etwas schwer. Oft liegen mir die englischen Wörter näher. Letztlich geht es um einen Prozess der Selbstwerdung, den man auch als Erwachen bezeichnen könnte, als Bewusstwerdung, als „awakening“ oder „coming home to your authentic self“. Letztlich ist es ein spiritueller Weg, was jedoch nichts mir Esoterik, Räucherstäbchen und Sich-in-fremde-Welten-Wegmeditieren zu tun hat. Es geht ganz konkret darum, hier auf der Erde, in diesem Leben und in seinem Körper vollständig anzukommen. Alle Aspekte seines Selbst zu integrieren, authentisch, in Verbundenheit und aus dem Herzen heraus zu leben. Es ist ein verschlungener Pfad, den man nicht planen kann, der manchmal aus Minischritten besteht und manchmal aus großen Durchbrüchen und oft aus Zeiten des scheinbaren Stillstands und der Integration. Einen Weg, den man meist erst im Nachhinein und auch dann nur in Ansätzen versteht.

 

Auf diesem Weg zieht die Seele Erfahrungen, also Menschen und Situationen, in dein Leben, die dir helfen, bestimmte Emotionen zu durchleben oder mit bestimmten Themen konfrontiert zu werden. Oft hat man dabei den Eindruck, gar nicht mehr auf dem Weg zu sich selbst zu sein, sondern sich im alltäglichen Drama zu verlieren. Doch genau hierin liegt der Weg: Indem man zunehmend bewusst wahrnehmen kann, was – durch die äußeren Umstände getriggert – im Inneren geschieht, und diesen natürlichen Prozess zulassen kann, ohne beispielsweise Gefühle zu unterdrücken, zu rationalisieren oder sich abzulenken, machen Körper und Geist automatisch die Erfahrungen, die notwendig sind, um etwas Altes, das noch in den Zellen gespeichert ist, loszulassen – denn dies funktioniert nur über das Erleben, nicht alleine durch den Geist. Auf körperlicher Ebene findet also ein elementarer Loslassprozess statt, auf der geistigen Ebene können wir zunehmend bewusster aus alten Denk- und Verhaltensmustern aussteigen und erreichen so mehr Einsicht und Klarheit und schaffen den Raum, der notwendig ist, um das Neue, also eine andere Art der Wahrnehmung und des Erlebens, einzuladen.

 

Als mir irgendwann dämmerte, dass ich mich auf dem Weg zu mir selbst befinde, war dies eine große Erleichterung. Doch da war noch etwas, das ich nicht recht zu benennen wusste, das jedoch zunehmend mehr Raum einnahm. Es gibt heute viele Möglichkeiten, sich auf dem Weg des Erwachens Inspiration, Begleitung und Hilfe zu suchen, wobei man hier natürlich aufmerksam und sehr bedacht auswählen muss, da vieles kommerzialisiert ist, laut und bunt, aufmerksamheischend und auf schnelle Erfolge verweisend daherkommt, in der Tiefe jedoch leer ist bzw. dich sogar von dir und von deinem Weg fortbringt. Hier ist es wichtig, gut in sich hineinzuhören und zu spüren, ob da eine innere Resonanz ist. Meist sind die Angebote, die Texte, die Lehrer, die still und leise und unauffällig daherkommen, aber eine authentische Tiefe mitbringen und selbst diesen sich langsam entfaltenden Weg gegangen sind und ihn weiterhin gehen, diejenigen, die dich wirklich in deine Tiefe zurückbegleiten können.  

 

Merkwürdigerweise spürte ich, je weiter ich auf meinem Weg war, manchmal auch bei inspirierend erscheinenden Texten und von mir als authentisch wahrgenommenen Menschen keine Resonanz mit deren Worten. Im Gegenteil, manchmal nahm ich einen entschiedenen inneren Widerstand wahr: „Dies ist nicht mein Weg!“ Und mehr noch: „Dies ist nicht der richtige Weg!“ Dabei war ich sehr darauf bedacht, nicht wertend zu urteilen oder zu spalten und zu trennen, und vor allem fühlte ich mich selbst meist wie ein suchender, herumirrender Anfänger. Woher kamen diese Heftigkeit und Klarheit, wenn diese Worte „Dies ist nicht der richtige Weg“ hervorquollen? Ich sprach sie lange nicht aus, im Gegenteil, ich schämte mich für die vermeintliche Überheblichkeit, die aus ihnen zu sprechen schien. Gleichzeitig schien ich bereits zu ahnen, dass es nicht mein Verstand war, der hier wertete. In diesen Worten schien eine Wahrheit zu liegen, die größer war als ich. Und irgendwann sprach ich sie aus. Leise, mit vorsichtig gewählten Worten, freundlich und dennoch klar. Und indem ich ihnen Ausdruck verlieh, begann ich langsam zu verstehen. Ich erkannte, wann sie auftauchten und um was es im Kern eigentlich ging.

 

Der innere Widerstand tauchte immer dann auf und ließ mich unwillkürlich einen Schritt zurücktreten, wenn ich dabei war, einen Text zu lesen, mich zu einem Workshop anzumelden, einem spirituellen Lehrer zuzuhören, wenn die Essenz dieser Worte der Quelle der männlichen Spiritualität der vergangenen Jahrhunderte oder Jahrtausende entsprang. Und allmählich begann ich zu ahnen, dass etwas in mir intuitiv wusste, noch bevor es mein Verstand begreifen konnte, dass die Spiritualität, wie wir sie heute kennen, nur ein Bruchteil einer Weisheit und Wahrheit ist, die viel größer und allumfassender ist und die nur erfahren und gelebt werden kann, wenn sie sich an ihre Wurzeln zurückerinnert. An eine Zeit vor vielen tausend Jahren, als das Weibliche geehrt, gesehen und gelebt wurde, als der Ursprung allen Lebens – ebenbürtig und in Harmonie mit einer bewussten männlichen Energie.

 

Wenn wir uns heute auf den Weg zu uns selbst machen und dabei hilfesuchend zu spirituellen Traditionen schauen, wie zum Beispiel auch zur Yoga-Philosophie, dem Taoismus oder auch den Lehren vieler moderner Weisheitslehrer lauschen, dann finden wir in ihrer Essenz den männlichen Weg, also Worte, Gedanken, Übungen und Energiearbeit, die für das männliche Energiesystem ausgelegt sind und einen beträchtlichen Teil unseres Wesens, nämlich die weiblichen Anteile, außer Acht lassen bzw. mehr noch: herabwürdigen. Was insbesondere Frauen, aber auch Männer, die Gesellschaft und die Erde heute brauchen, ist eine Rückbesinnung, die Wiederentdeckung des weiblichen Wegs. Nicht bloß „feminine sugarcoating“, also die oberflächliche weibliche Ausschmückung eines im Grunde männlichen Wegs.

 

Der weibliche Weg wird getragen von Vertrauen und Offenheit, es ist ein spiralförmiger Weg in Zyklen, mit Pausen und vermeintlichem Stillstand. Dies sind die Zeiten der Integration. Es ist kein Weg, den man von A nach B geht. Kein Weg, den man vermessen kann, oder der nach äußerem Erfolg strebt. Kein Weg, den man „macht“ oder den der Verstand versteht. Es ist mehr das sich vertrauensvolle Hingeben, das Sich-Entwickeln-Lassen, das Reinspüren und Mitfließen, Mitschwingen mit dem Weg. Das bewusste Sein auf dem Weg.

 

Dabei kommt dem Körper eine wichtige Rolle zu. Es geht nicht darum, zum Beispiel in der Meditation „leer“ zu werden oder sich aus dem Körper hinaus nach oben zu bewegen. Es geht beim weiblichen Weg vielmehr darum, endlich wieder vollständig in den Körper hineinzusinken, in ihm anzukommen, ihn bewusst zu spüren, den Augenblick zu genießen, ohne etwas erreichen zu wollen. Von hier aus kann sich die Wahrnehmung ausdehnen, weit werden, man kann Fülle und Verbundenheit spüren. Statt Disziplin und Askese stehen Mitgefühl und Wohlwollen mit sich selbst und anderen im Vordergrund. Es ist ein grundlegend anderer Weg.

 

Es spricht nichts dagegen, beides zu leben und zu schätzen, auch das „Leerwerden“ in der Meditation kann die Wahrnehmung weiten und auf andere Art erfüllen. Es geht darum, beides wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Und solange viele von uns gar nicht spüren, dass es einen Gegenpol gibt zum männlich geprägten „raus aus dem Körper“, muss unser aller Weckruf lauten: „rein in den Körper“. Richte den Blick mehr nach innen, weniger nach außen oder oben. Nähre deine weiblichen Anteile, und erst wenn diese Quelle wieder sprudelt, erlaube dir in Maßen den Ausflug in die männliche Energie. In Maßen deshalb, weil die Gesellschaft wie ein Sog wirkt, der uns, meist ohne dass uns dies bewusst ist, mal heftig, mal sehr subtil zurück ins männliche Denken, Handeln, Ziele-erreichen-Wollen holt.

 

Meditation auf die weibliche Art und Weise ist so einfach. Es geht nur um das Sitzen – oder Liegen oder Gehen. Das Atmen, das Fühlen, das Wahrnehmen des Körpers und des jetzigen Augenblicks. Genau so, wie der jetzige Moment ist, ist es gut. Auch wenn der Körper zwickt, die Gedanken immer wieder beginnen zu kreisen, auch wenn heftige Gefühle in dir toben. Bleibe einfach dabei. Es geht nicht darum, einen „perfekten“ Zustand zu erreichen. Denn sobald du dies tust, sagst du nicht Ja zum jetzigen Augenblick, sondern bist in der Zukunft. Du lehnst das ab, was jetzt gerade ist. Dabei geht es nicht darum, perfekt zu werden. „It’s about enjoying the perfectly imperfect moment“ – es geht um das Annehmen des „perfekten Unperfekten“, um das Ja-Sagen zu diesem Moment und zu dir. Du darfst all den Ballast, den du mit dir herumträgst, das angehäufte Wissen, die spirituellen Lehren hinter dir lassen und auf deine eigene innere Weisheit vertrauen.

 

Lange kämpfte ich dagegen an, Position für das Weibliche zu beziehen. Auf keinen Fall wollte ich wie eine Feministin wirken, die verbissen – und männlich! – für das Ansehen der Frau kämpft. Doch mittlerweile ist mir klar, dass ich über diese Themen sprechen muss. Ich sehe mich nicht als Feministin, sondern als Fürsprecherin des Weiblichen. Es gibt so viele Frauen und Männer, die spüren, dass etwas aus der Balance geraten ist: im eigenen Energiehaushalt, im eigenen Leben, in der Gesellschaft, auf dieser Erde. Ich möchte euch, Männer wie Frauen, dazu ermutigen, mehr auf eure Gefühle zu hören, auf eure Intuition, wenn ihr beginnt, den Weg zu euch selbst zurückzugehen. Wenn sich Texte, Lehren oder Übungen nicht stimmig für euch anfühlen, dann hat dies einen Grund. Vertraut dann der eigenen inneren Stimme.

 

Wie wohltuend war es für mich, als ich – nach etwa fünf Jahren auf meinem Weg, in denen ich immer wieder an meiner Wahrnehmung zweifelte – plötzlich ein Buch ("Weibliches Manifest") in den Händen hielt von einer Frau, die meine Sprache spricht. Sie verwendet ähnliche sprachliche Bilder, manchmal fast die gleichen Worte, um das auszudrücken, was auch ich wahrnehme und was so schwer in Worte zu fassen ist: den Ruf der weiblichen Seele nach der Wiederentdeckung der wahren weiblichen Spiritualität, nicht bloß einer weiblichen Version des männlichen Weges. Dafür braucht es Frauen und Männer, die sich trauen, sich von Traditionen zu lösen und sich ihren eigenen Weg durch vermeintliches Neuland bahnen. In Wahrheit jedoch beschreiten sie einen uralten, wohlbekannten Pfad. 

 

Vielleicht hörst auch du diesen Ruf und konntest ihn bisher nicht einordnen. Jeder Weg, insbesondere der weibliche, ist anders. Erlaube dir, mehr auf deine Intuition zu hören und das zu tun, was dein Innerstes dir rät. Es ist dein ureigener Weg.

 

 

 

 

 

Lesenswert – drei Autoren und Autorinnen, die ich wärmstens empfehlen kann, falls du zu meinen Texten Resonanz spürst:

 

- Maitreyi D. Piontek: „Weibliches Manifest – Lebe anders. Lebe, wozu du bestimmt bist.“ (Ansata)

 

- Sophie Bashford: „You Are a Goddess. Working with the Sacred Feminine to Awaken, Heal and Transform.” (Hay House)

 

- Jeff Foster: z. B. “The Way of Rest. Finding the courage to hold everything in love.”


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