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Wenn du schwingst, dann schwinge ich mit – being (with) an empath

 

Feinfühlige, empathische Menschen fühlen, was andere Menschen fühlen. Sie bekommen sehr viel von ihrer Umgebung mit, ohne dies unbedingt zu wollen. Es ist ein Prozess, der ganz natürlich und automatisch stattfindet. Ihr System ist darauf ausgerichtet, viele der subtilen, non-verbalen, energetischen Impulse zu empfangen, die jeder von uns ständig aussendet. Der Empfänger ist dabei jedoch nicht der Verstand, der Empath DENKT also nicht: „Aha, der andere ist gerade wütend“. Der Empfänger ist das Nervensystem und der Körper. Das bedeutet, der empathische Mensch FÜHLT plötzlich selbst eine Welle von Wut oder Traurigkeit oder Nervosität in sich hineinschwappen. Ist er sich seiner Feinfühligkeit und dieses Prozesses bewusst, dann kann er einordnen, dass dies nicht die eigenen Gefühle sind, sondern die Empfindungen eines anderen Menschen. Das kann das Gegenüber sein, mit dem man gerade im Gespräch ist, es kann jemand in der Ferne sein, mit dem man telefoniert, oder jemand, dem man im selben Raum, Zugabteil oder auf der Straße begegnet. Es kann auch jemand sein, dessen Worte man auf Social Media liest, die notleidenden Menschen, die man in den Nachrichten sieht... Manche Empathen haben so feingetunte Systeme, dass das Einfühlungsvermögen weit über Raum und Zeit wirkt, dass ein persönlicher, direkter Kontakt gar nicht nötig ist, um wie eine Stimmgabel unwillkürlich mitzuschwingen mit den Schwingungen, die jemand anders aussendet.

 

Eine Stimmgabel schwingt nur dann mit einer anderen mit, wenn beide sich auf derselben Frequenz befinden. Empathen sind jedoch so resonanzfähig, dass sie in der Lage sind, sich auf ein breites Spektrum an Frequenzen einzustimmen. Sie bieten einen Klangraum für eine Fülle von unterschiedlichen Frequenzen, sind sehr flexibel und anpassungsfähig, sie lieben es, in Resonanz zu gehen, auch wenn es bedeutet, sich im Laufe eines Tages auf viele verschiedene, teilweise schnelle und abrupte Wechsel einzustellen – und manchmal vergessen sie darüber ihre ureigene Frequenz.

 

Während dieses Sich-einschwingen-Können sich einerseits schön anhört und zu Momenten großer Verbundenheit und Harmonie führen kann, birgt es andererseits auch einige Herausforderungen, und zwar für beide Seiten, für denjenigen, der mitschwingt, nennen wir ihn „Resonanz-Stimmgabel“, und auch für denjenigen, der die Schwingung aussendet, also die „Impuls-Stimmgabel“.

 

RESONANZ-STIMMGABEL

 

Für den feinfühlig mitschwingenden Empathen ist es notwendig, sich zunehmend über das eigene Wesen bewusst zu werden, und zu lernen, die Antennen auch fein darauf auszurichten, in welchen Situationen diese Übertragung stattfindet. Es geht nicht darum, sie generell zu unterbinden. Das würde dem Menschen seinen innersten Wesenskern rauben. Gute Ratschläge wie „Leg dir halt ein dickeres Fell zu“ helfen also nicht, im Gegenteil, sie bauen einen Druck auf, da dem empathischen Menschen somit eigentlich gesagt wird, dass er und sein Wesenskern nicht in Ordnung ist. Es geht für solche Menschen vielmehr darum, ihre Gabe anzunehmen und wertzuschätzen und gleichzeitig genau unterscheiden zu lernen, ob es sich um die eigenen oder um fremde Energien und Empfindungen handelt, denen sie in ihrem Körper gerade Raum geben. In einigen Situationen kann man sich mit der Zeit auch bewusst dafür entscheiden, manches nicht in sich hineinzulassen. Doch grundsätzlich geht es eher darum, durchlässig zu bleiben und alles zu fühlen und dabei die Grenze zwischen Eigen- und Fremdemotion zu kennen.

 

Damit dies nicht überwältigend wird, sind vor allem zwei weitere Fähigkeiten notwendig: Erstens, ein guter Umgang mit Gefühlen. Zweitens, das „Reinigen“ des eigenen Systems.

 

Der Umgang mit den Gefühlen ist ein großes Thema, vielleicht eines der wichtigsten für unsere heutige Gesellschaft, das ich hier nur kurz anschneiden kann. Sehr empathische Menschen sind in unserer Gesellschaft diejenigen, die zuerst einen immensen Leidensdruck spüren, wenn sie keinen guten und gesunden Umgang mit ihren Gefühlen lernen. Sie werden quasi dazu gezwungen, Experten im Umgang mit Gefühlen zu werden – und gelingt ihnen dies, können sie die Vorreiter und Lehrer für uns sein. Im Kern geht es darum, die Gefühle wieder zu fühlen, ihnen im Körper einen Raum zu geben, sie wie eine Welle des Ozeans kommen und gehen lassen, ohne zu unterscheiden zwischen „guten“ oder „willkommenen“ Emotionen und „schwierigen“ oder „unwillkommenen“ Emotionen. Wer auch der Wut, der Trauer, der Scham und ihren Freunden ein Zuhause in sich geben kann, lädt alle Anteile seines Selbst ein und schafft so eine gute Basis dafür, „ganz“ und authentisch zu werden und sich im Leben sicher, gelassen und geborgen zu fühlen.

 

Während es bei den eigenen Emotionen schon schwer genug ist, sie kommen und dann wieder gehen zu lassen, ist es bei den übernommen noch schwieriger. Sie kleben manchmal förmlich an ihrem neuen Gastgeber, und im Laufe eines Tages sammelt sich ein ganzes Staudammbecken davon an – gerade im technologischen Zeitalter, wo Bilder aus der ganzen Welt und Nachrichten von Freunden und Bekannten über unser Smartphone pausenlos zu uns hereinfluten. Wir können es uns so vorstellen, dass Empathen zusätzlich eine rezeptive Energie aussenden, wie ein Vakuum, das gefüllt werden möchte. Es ist so, als würden sie „willkommen“ rufen, wenn ein Lastenträger mit schweren Säcken vorbeiläuft. Er gibt ihnen ein paar ab, läuft dann etwas erleichtert weiter, während der Empath die übernommen Säcke mit sich schleppt. Ein paar Meter weiter ruft er dem nächsten sein „willkommen“ entgegen und macht so den anderen Menschen das Leben ein klein wenig leichter, während er selbst irgendwann unter dem Lastenberg zusammenbricht. Deshalb ist es so wichtig, wirkungsvolle individuelle Strategien zu entwickeln, sich dieser Last zwischendurch und spätestens am Ende des Tages selbst wieder zu entledigen. Das können Zeiten der Ruhe und des Rückzugs sein, Spaziergänge in der Natur, Musik, Visualisierungsübungen, Sport, Tanzen, Basenbäder, Meditation… Welche Reinigungstechnik es ist, ist egal. Wichtig ist, dass die Stimmgabel wieder frei schwingen kann.

 

IMPULS-STIMMGABEL

 

Aber auch für denjenigen, der einen Empathen in seinem näheren Umfeld hat, ist es wichtig, den eigenen Ballast nicht einfach gewohnheitsmäßig unbewusst weiterzugeben. Es mag leicht und bequem sein, ja, aber es bringt kein persönliches Wachstum. Empathen sind extrem gute, angenehme Zuhörer, die Anteil nehmen, Interesse und Mitgefühl zeigen und die anderen Menschen oft ein warmes Gefühl von Angenommensein und Gesehenwerden vermitteln. Aber sie sind keine emotionalen Mülleimer, in die man seinen ganzen Mist in schöner Regelmäßigkeit hineinkippen kann, um sich ein bisschen Erleichterung zu verschaffen.

 

Für die „Impuls-Stimmgabeln“ geht es darum, sich der Verantwortung für ihre eigenen Gefühle bewusst zu werden. Es geht darum, dass sie lernen, auch mit den sogenannten „negativen“ Gefühlen zu sein, dass sie lernen, den Raum für sich zu halten und sich selbst zu regulieren. Dass sie Strategien und Techniken entwickeln, wenn das Leben es ihnen schwer macht und die Gefühle drohen, sie zu übermannen. Manchmal, wenn man die Gefühle nicht einfach da sein lassen kann, mag es helfen, sie körperlich über Sport auszuagieren, sie aufzuschreiben, engagierte Selbstgespräche zu führen, ein kreatives Ventil für sie zu finden, sie also auf eine gestaltende Art und in Weise in etwas Produktives zu verwandeln, ihnen Ausdruck zu verleihen und dabei die eigene Selbstwirksamkeit zu spüren. Man kann sich auch Hilfe suchen: Therapeuten, Selbsthilfegruppen, Supervision. Und man kann seine Ressourcen beizeiten kennenlernen und stärken, damit man in Notzeiten auf sie zurückgreifen kann, damit sie Stabilität geben, wenn der Boden unter den Füßen wankt. Man kann lernen zu sagen: „Dies sind meine Gefühle, dies ist mein Leben – und ich trage die Verantwortung dafür.“

 

Und dann, oh Wunder, können die Stimmgabeln der Empathen mitschwingen, sich einschwingen, da sein – wie sie es ganz natürlich, automatisch und von Herzen gerne tun – ohne dass sie danach unter einer fremden Last zusammenbrechen. Es ist ein gemeinsames Schwingen ohne Geben und Nehmen, ohne Schuld und Last. Es ist ein gemeinsames Dasein und Fühlen – wenn jeder weiß, was zu ihm selbst gehört, und dafür Verantwortung übernimmt.

 

Und während die „Impuls-Stimmgabeln“ ihre Impulse unbewusst und non-verbal aussenden, brauchen sie selbst manchmal sehr direkte und verbale Impulse von den feingestimmten „Resonanz-Stimmgabeln“, damit auch sie sich dieser Übertragungsprozesse bewusst werden.

 

Deshalb, an die „Impuls-Stimmgabeln“ in meinem Leben: „Wenn du schwingst, dann schwinge ich gerne mit. Aber ich bin nicht dein emotionaler Mülleimer! Übernimm Verantwortung für deine Gefühle. Dann fühle ich gerne mit dir mit.“ 

 

NB: Empathie ist natürlich ein Kontinuum, man ist nicht entweder empathisch oder nicht. Jeder Mensch ist es zu einem gewissen Grad. Allerdings gibt es einige Menschen, die in extremer Weise auf die Schwingungen anderer Menschen reagieren, die besonders feinfühlig, sensibel und empathisch sind. Im Englischen ist der Begriff „empath“ schon geläufiger, im Deutschen klingt er für mich recht ungelenk, weswegen ich stattdessen manchmal „empathischer Mensch“ schreibe, wohl wissend, dass alle Menschen mehr oder weniger empathisch sind. Außerdem ist man natürlich immer auch beides: „Impuls- und Resonanz-Stimmgabel“. Dennoch gibt es Menschen, die man jeweils mehr mit der einen oder mit der anderen Seite assoziieren kann, was nicht heißt, dass sich die beiden Kategorien gegenseitig ausschließen. Es ist also ganz interessant, sich einmal bewusst in die andere Seite hineinzudenken – bzw. hineinzufühlen! –, mit der man sich spontan vielleicht weniger identifizieren würde.  

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