· 

Der Sehnsucht Raum geben

Sehnsucht war nicht unbedingt etwas, das mich in den ersten Jahrzehnten meines Lebens begleitete. Ich schwärmte als Teenie nie für irgendwelche Idole, hing unrealistischen Zukunftswünschen oder traumtänzerischen Berufsvorstellungen nach. Ich wünschte mir das, was möglich und prinzipiell erreichbar war, stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden, war vernünftig und insgesamt ziemlich zufrieden mit dem, was ich hatte und was ich war.

 

Doch dann kamen Stolpersteine. Mein Körper sagte "Halt. So kannst du nicht weitermachen." Ich hörte ein bisschen zu, änderte auch manches und fiel dann wieder in mein rational-vernünftiges Leben zurück, das mich bisher gut vorangebracht hatte und mich zu einem relativ angenehmen, unkomplizierten Mitmenschen machte. Also sagte mein Körper wieder "Halt!" und dann noch ein weiteres Mal. Und auch eine Reihe von schwierigen, verblüffend ähnlichen und sehr schmerzhaften Beziehungserfahrungen sagten über zehn Jahre immer eindringlicher: "Schau mal hin!".

 

Da war ich also, Anfang 30, als alle um mich herum heirateten, Familien gründeten, Wohnungen kauften und sich niederließen: ratlos, orientierungslos, verlassen.

 

So begab ich mich vor ziemlich genau zehn Jahren auf die Suche. Nach was, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Aber das Leben hatte mir so deutlich den Boden unter den Füßen weggezogen, dass klar war: So geht es jedenfalls nicht mehr weiter.

 

Das Interessante war, dass ich zuerst dachte, ich müsste mehr von etwas werden. Stressresistenter, dominanter, mit einem dickeren Fell. Vielleicht ging es auch darum, etwas Neues zu lernen, auszuwandern, ein anderer Mensch zu werden? Doch alles fühlte sich nach einer Sackgasse an. So viel hatte ich bereits ausprobiert. Ich war erschöpft.

 

So begann ich suchend einen Weg zu gehen, den ich erst rückblickend verstand. Es ging gar nicht in erster Linie darum, mehr von etwas zu werden, neue Kompetenzen zu erlangen, etwas dazuzugewinnen. Sondern ganz im Gegenteil: es ging um das Ablegen von all dem, das eigentlich gar nicht zu mir gehörte, das mit daran hinderte, mein eigenes, authentisches Leben zu leben. Das Ablegen von alten Mustern und Prägungen, von Glaubenssätzen und Gewohnheiten, von äußeren Ansprüchen und Abhängigkeiten.

 

Heute, zehn Jahre später, ist mir bewusst, dass sich das Thema des Verlassenseins wie ein roter Faden durch mein Leben zieht. Immer wieder wurde ich mit der Nase darauf gestoßen: "Hier gibt es etwas zu heilen. Dies ist deine Urwunde." So ist es fast schon absurd, dass ich dreimal in Folge kurz vor Weihnachten auf schmerzliche Art verlassen wurde und damit haderte, wie andere mir so etwas antun konnten. Denn eigentlich, das weiß ich heute, hatte ich mich vor langer Zeit selbst verlassen.

 

Meine Aufgabe war nun, mich Schritt für Schritt aus dem herauszuschälen, was ich als meine Persönlichkeit wahrgenommen hatte. Wie ein Skulpteur, der aus einem großen Marmorblock allmählich eine wunderschöne Statue herausarbeitet, die eigentlich schon immer da war. Manchmal, indem er große Blöcke wegklopft, manchmal in kleinster, filigraner Feinarbeit. So entdeckte ich unter anderem meine Gefühle. Meine Bedürfnisse. Das Geschenk der Hochsensibilität. Eine große Kraft und gleichzeitig eine berührende Verletzlichkeit. Eine Sehnsucht nach Spiritualität und Angebundensein. Und eine große Verbundenheit zu etwas, das ich heute auch als das Göttlich-Weibliche oder die Große Mutter bezeichne.

 

Es ging also darum, all das zu verlassen, was mich daran hinderte, mein wahres, authentisches Selbst zu entdecken. Und was ich da entdeckte, machte mich erst einmal sehr traurig: Ich hatte mich selbst verlassen! Heute weiß ich, dass dies mit die wichtigste Erkenntnis und ein großer Teil meines Heilungswegs in diesem Leben ist. Zu wissen: Ich werde mich selbst nicht mehr verlassen.

 

Was mich auf diesem Weg unterstützte, war, dass sobald etwas Raum entstanden war, als mein rationales Ich vor zehn Jahren orientierungslos nach einem Weg suchte, eine neue, alte Sehnsucht hereingeschwemmt wurde. Ein vages Sehnen und Ziehen, noch ohne klares Ziel, und doch beharrlich und stark. Es war diese Sehnsucht, die, einem inneren Kompass gleich, den ich noch nicht lesen konnte, mich in genau die richtige Richtung schubste.

 

Heute kenne ich sie besser, diese Sehnsucht meines Herzens, der ich manchmal bewusst Raum gebe und die manchmal im Alltag ganz unvorhergesehen hereingeflutet kommt. Sie flüstert mir dann zu, was mein Herz bereits weiß: wohin mein Weg eigentlich geht. Sie sagt: "Es ist ok, für den Augenblick dies zu tun. Aber vergiss nicht, was du eigentlich in diesem Leben tun möchtest." Sie erinnert mich daran, mich immer wieder mit meinen Herzenswünschen zu verbinden und meinen Seelenweg nicht aus den Augen zu verlieren.

 

Früher dachte ich, die Sehnsucht würde einen überwältigen und handlungsunfähig machen. Oder traurig, da sie einem zeigt, was man alles gerade nicht hat oder ist. Heute schätze ich die sowohl sanfte wie auch die gewaltige Kraft, die die Sehnsucht entfalten kann, eine Freundin, die mich begleitet und daran erinnert, mich nicht mehr selbst zu verlassen. Meist bin ich dankbar zu sehen, dass ja schon viele Schritte in die richtige Richtung getan sind, und nutze das Sehnen als Kraft, die mich weitere mutige Schritte gehen lässt. Und manchmal ist es tatsächlich so, dass eine Traurigkeit auftaucht, wenn man spürt, wie weit man gerade entfernt ist von dem, was das eigene Herz zum Singen bringt. Dann ist es schön, genau diesem Gefühl ein bisschen Raum zu geben, denn es wird sich verändern. Und auch hieraus kann neue Kraft, eine überraschende Erkenntnis oder eine klarere Ausrichtung gewonnen werden.

 

Manchmal muss man Platz schaffen, ausmisten, sich von all dem mutig trennen, was nicht mehr zu einem gehört oder auch noch nie gehörte. Lade die Sehnsucht deines Herzens ein in diesen neu entstandenen Raum. Sie wird dir den Weg weisen.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0